Julián Peralta ist Pianist, Komponist und war Gründungsmitglied der Band Fernández Fierro. Gleichzeitig ist er einer der einflussreichsten Musiker seiner Generation. Oft wird der charakteristische „dunkle Sound” der aktuellen Szene seinem Einfluss zugeschrieben. Wir haben ihn hier nach den Ursprüngen dieses Sounds gefragt, den er zuletzt in seiner brandneuen EP „Mal Arreado“ anklingen lässt, sowie nach der aktuellen Lage des zeitgenössischen Tangos.
Nachdem Julián Peralta die Band Fernández Fierro verlassen hatte, formte er das Avantgarde-Sextett Astillero, mit dem er mehrere Platten veröffentlichte , u.a. „Tango de ruptura“, „Quilombo“ und vor einigen Monaten die EP „Arcadia“. Sie zeigen die klangliche Vielseitigkeit der Gruppe. Mit dem Orquesta Típica, das seinen Namen trägt, hat er darüber hinaus verschiedene moderne Klassiker neu arrangiert und in den Alben „Un disparo en la noche vol.1″ und „Un disparo en la noche vol.2“ veröffentlicht – beide begleitet von einer Video-Dokumentation.
Julián Peralta kommentiert im Folgenden seine neue EP „Mal Arreado“ und die geplante 3. Ausgabe von „Un disparo en la noche“, die eine Art Landkarte des zeitgenössischen Tangos ist.
„Mal arreado” war das erste Stück, das ich geschrieben habe und weiterhin spielen möchte“, erklärt Julián Peralta. Der Pianist hatte den Tango für die zweite Platte der Band Fernández Fierro zu Beginn seiner Karriere komponiert. Zwanzig Jahre später, nun mit seinem eigenen Orquesta Típica sowie seinem Sextett, sieht er in dem Stück jene Elemente, die seinen Stil und den Sound seiner Generation ausmachen. Er präsentierte die EP im November 2022 im Lokal „Hasta Trilce“ in Buenos Aires, mit seinem Orchester und den Stimmen von Black Rodríguez Méndez, Victoria di Raimondo, Hernán “Cucuza” Castiello und Juan Iriarte. Dort stellte er auch einige Stücke aus „Un disparo en la noche vol.3“ vor.
Mit der ihn charakterisierenden fieberhaften Aktivität, auch angetrieben durch die Pandemie – während der er an der Musik verzweifelte – treibt er die Projekte mit seinen Kollegen voran: „Zwölf Musiker zusammenzutrommeln und ihnen zu sagen ‘an dem und dem Tag haben wir Aufnahme‘, treibt Dich auch an mit den fertigen Arrangements zu den Proben zu erscheinen!“
Andrés Valenzuela (AV): Diese EP ist die erste Aufnahme des Orquesta Típica, die nicht „Un disparo en la noche” reflektiert. Warum nicht?
Julian Peralta (JP): „Es gibt eine Art geschichtliches Ereignis, und das sind die zwanzig Jahre des „Mal arreado“. Ich hatte es damals für die zweite Platte der Fernández Fierro geschrieben und fand es jetzt spannend, es mit dem Orquesta Típica aufzunehmen – mein erstes Stück, das ich auch gern weiterspiele. Ich hatte natürlich davor noch andere Stücke komponiert und sie sogar aufgenommen; die würde ich aber heute nicht mehr spielen wollen.
AV: Warum?
JP: In jedem Alter gibt es so eine Art Teenager-Phase, mit der man sich nicht mehr identifizieren kann. Ich kann mir diese Stücke mit einer Spur Nostalgie anhören und schaue darauf mit einer gewissen Zärtlichkeit, aber ich fühle, dass ich das nicht mehr bin. Ich habe eine Entwicklung durchgemacht. Bei „Mal arreado“ schon. Dazu stehe ich auch mit meinem erwachsenen Ich.
AV: Wie genau manifestiert sich das?
JP: Es gibt verschiedene Modi. Damit werde ich jetzt langweilen: es ist ein Thema mit zwei Modi, mit der gleichen Logik einer Vidala (argentinischer Folklore-Tanz, Anm.d.Üs.). Das heißt, statt sich auf die Halbtöne der Terzen zu fixieren, wie bei der Folklore, auf der Basis des eolischen und dorischen Modus, die etwas glücklicher klingen, wird hier auf Sexten gebaut, die mehr dem Tango entsprechen, im phrygischen und eolischen Modus, der etwas depressiver ist. Das ist das Odeur dessen, was ich schreibe. Ich tendiere dazu, in Richtung depressiv zu schreiben. Wir nennen das spaßigerweise Tango-Dracula. Das ist das, was dabei herauskommt!
AV: Um dem Publikum die Energie auszusaugen!
JP: Guter Punkt! Nichtdestotrotz haben wir Mittel und Wege gefunden, diese Dunkelheit etwas herauszunehmen, damit es nicht ganz so depressiv klingen möge. Diese technischen Hilfsmittel öffnen ein Tor zur Sprache des Tangos. Und das sind nicht nur meine, sie waren schon immer in der Musik, aber sie halfen dabei, den Klang zeitgenössisch zu gestalten.
AV: Dieses „Tor” definiert einen Großteil des zeitgenössischen Tangos.
JP: Mja, so ähnlich. Manche Leute sagen, daß dieser Klang, an dem wir seit jener Zeit arbeiten, sich in vielen Tango-Bands verfestigt hat. Ich glaube jedoch nicht von mir oder meinen Kollegen, daß dies UNSER Klang wäre, mit dem wir experimentieren, es ist ein Klang, der in der Luft seine Runden zieht. Man muss ihn nur auf Papier festhalten. Andere Klänge stehen für etwas anderes: die Hoffnung der interbellischen Epoche zum Beispiel. Diesen Klang von „Vida mía“, den finden wir heute nicht mehr. Der hat eine andere Klanglichkeit. Diese Epoche hat ihren Klang. Klar, es gibt weiterhin Disney. Es gibt einen Markt, aber wenn Du ein Bewusstsein der Wirklichkeit hast, ist Disney ganz weit weg.
AV: Da taucht „Un disparo en la noche” auf.
JP: Klar, das ist nicht der ganze Tango, aber ein Teil davon. Ich glaube, das ist eine Bewegung, derer sich einige Musiken anschließen oder für einen selbst stehen. „Mal arreado” steht für diesen epochalen Wechsel, meine ich.
AV: Diese EP ist instrumental. Bei dem Orquesta Típica wurde mit Sängern gearbeitet.
JP: Instrumentalmusik ist meine ursprüngliche Verbindung zur Musik. Ich sollte fast sagen, daß ich eigentlich eher Instrumentalmusik mache als gesungene Musik. Da fühle ich mich zuhause. Aber das Orquesta Típica ist anders entstanden. Es war das Gegenstück der Instrumentalarbeit von Astillero. Wir haben mit Astillero eine Gesangsplatte mit dem Chino (Laborde, Anm.d.Üs.) aufgenommen, und ich hatte große Lust dieses Repertoire aufzunehmen, das wir schon live gespielt hatten. Die Aufnahmen haben mir auch geholfen in den Rhythmus zu kommen, am Ende der Pandemie.
AV: Mit der Pandemie war es sicher schwierig, ein Orquesta Típica wieder aufzubauen.
JP: Ja, aber ich kann das Orquesta Típica nicht aufgeben. Das ist ein institutionalisierter Sound. Niemand kann ihn aufgeben, oder? Jeder der mal dabei war, möchte zurück. Es ist der Sound der Community. Es ist ein Happening und hat einen Sound, den man nicht lassen kann.
AV: Was werdet Ihr über das Volumen 3 („Un disparo en la noche, Vol.3“, Anm.d.Üs.) verraten?
JP: Das Vol.3 wird dem Vol.2 ähneln, mit dem einen oder anderen Thema von mir oder Mariano González Caló, die für die Platte gemacht wurden und einer Menge weiteren Materials der Kollegen. Ich habe bereits einige Arrangements fertig: einen Chamamé (entlehnt dem Folkloregenre, Anm.d.Üs.) von Juan Iriarte, “Desolación” von Pablo Sensottera, “No sé vivir” von Pacha, “Sombras y noches” von Juancito – alles handelt von Depression und Tod.
AV: Du hast auf das Gegenstück zu Astillero hingewiesen – auch im experimentellen Bereich?
JP: Da es sich um einen institutionalisierten Klang handelt und nachdem wir in anderen Kontexten einige Experimente gemacht haben, kann man das so sagen. Was passiert, ist daß man in anderen Formaten mehr Möglichkeiten zum Experimentieren hat. In einem Orquesta Típica geht das nicht. Da wäre weder die Zeit noch der Rahmen vorhanden, um daran zu arbeiten. Ein einziges Durcheinander! Eine realistische Möglichkeit besteht darin, die Suche nach anderen Kontexten dem Orchester zuzuführen, und zwar dann, wenn die Erfahrungen sich in einem fortgeschrittenen Stadium bewegen. Wenn es bereits Resultate gab, man Schlussfolgerungen daraus ziehen konnte und weiß, daß es orchesterfähig ist. Es tut immer gut zum Orquesta Típica zurückzukehren. Da fliegt Dir die Perücke hoch! Da treibt Dich die Saite, die Bandoneons flüstern Dir zu! Es geht nichts über diese Energie!
Übersetzung: Dr. Stela Popescu-Böttger
Quelle: https://www.pagina12.com.ar/495040-julian-peralta-esta-epoca-tiene-su-sonido
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