Aktuelle Stilrichtungen des Tango

Las Nuevas Formas del Tango
Foto: Ruben Pineda


Der Verband der Tango-Interpreten und -Schaffenden ACIT – Asociación de Creadores e Intérpretes de Tangohat während der Pandemie eine Übersicht über das Genre unter Herausarbeitung verschiedener Perspektiven geschaffen. Die Unterscheidung in Stilrichtungen hat den Vorteil, sich einfacher mit den unterschiedlichen Verantwortlichen und Organisatoren – z.B. des Festivals Tango BA – in Verbindung setzen zu können. Zusätzlich hat der Prozess die Schaffung einer stilistischen Landkarte des zeitgenössischen Tangos ermöglicht.


Unter dem Schirm der ACIT hat man sich auf sieben Stilrichtungen geeinigt. Natürlich sind die Künstler nicht daran gebunden, auch verändern sich ihre Projekte. Tango21 hat mit Vertretern jeder dieser Richtungen gesprochen, um zu erfahren, wie diese sich selbst sehen, nicht nur in Bezug auf die anderen Gruppen, sondern auch hinsichtlich der eigenen Vergangenheit.

1. Konzertanter Tango

Esteban Falabella (siehe Foto), Vorstandssprecher von ACIT, definiert den konzertanten Tango als „Projektion des Genres für die Welt der Melomanen, Konzertsäle und Live-Musikclubs mit unterschiedlichen Profilierungen“. Ganz auf der Linie der ‚piazzollistischen‘ Revolution
sieht der Musiker Falabella eine „Interaktion mit der klassischen Musik unterschiedlicher Epochen, vom Barock bis zur zeitgenössischen Musik, mit Elementen des Jazz und weltweiter Volksmusik“ sowie eine „Erforschung der Grenzen des Genres, mit neuen Elementen, jedoch dem interpretativen Gestus des Tangos treubleibend“.

In diesem Sinne unterscheidet er den aktuellen konzertanten Tango von dem vorhergegangenen über seine temporären Einflüsse. „Der konzertante Tango projiziert das Genre in den sonoren, akademischen, experimentierfreudigen und explorativen Bereich. Er verschreibt sich so auch solchen MusikliebhaberInnen jenseits des Genres, spielt grenzüberschreitend auf World Music Festivals, klassischen oder Jazz-Konzerten, als klangliche Erfahrung mit einer einzigartigen und sehr unsrigen Identität,“ erklärt er.

Herausragend: Agustín Guerrero, Juan Pablo Navarro Septeto, Quinteto Revolucionario, Yazmina Raies Trío

2. Der neue Tango-Cancion


Cintia Trigo (Foto) zeigt die eminente Bedeutung des Textes in dieser Sparte auf. Auch wenn das nicht Spanisch sprechende Publikum nur marginalen Zugang zu dieser Bewegung finden mag, ist es doch eine der derzeit potentesten Entwicklungen im Bereich des zeitgenössischen Tangos und findet auch medial in der argentinischen Presse die meiste Beachtung. Die Sängerin und Komponistin Trigo fügt hinzu: „Selbst, wenn gewisse thematische Traditionen weiter ihren Weg gehen, wie z.B. existenzialistische oder romantische Texte, so ist man jedoch zurückgekehrt zu einer frühen Form des ‚sozialen‘ Tangos: mit Liedern über die Ungerechtigkeiten in der Welt und im Einzelfall“. Dabei zeigt
sich, dass sich die neuen Liedtexte auch in Queer- und Genderthematiken hineinentwickelt haben. „Das neue Tangolied trägt den Stempel der komponierenden Sängerin bzw. des komponierenden Sängers. Diese Tangos kommen stark als eigene Tangos rüber. Natürlich gibt es weiterhin TexterInnen und KomponistInnen. Es ist jedoch auffallend, wie viele Interpretinnen und Interpreten ihre eigenen Lieder präsentieren.“

Eine weitere augenfällige Eigenschaft sei die Durchlässigkeit hin zu neuen Stilrichtungen oder Genres. Es gäbe Fusionen mit dem Candombe, der Foklore, dem Jazz oder Rock, die dem Lied einen neuen Anstrich verliehen, sagt Trigo. „Das neue Tangolied erreicht die jungen Generationen, die ein Problem bzw. Vorurteile bezüglich des klassischen Tangos und seiner Texte hegen,“ findet sie und hebt hervor, daß viele der neuen Kompositionen sich nicht nur in neuen kreativen Versionen unter den Musikern verbreiteten, sondern auch auf den Milongas. „Es gibt Milongas,“ sagt sie, „da werden die neuen Lieder getanzt, weil sie von den Lehrkräften vorgestellt werden. Im tänzerischen Ambiente hatten sie am wenigsten Fuß gefasst, durch die Einwirkung des Unterrichts, finden sie jedoch ihren Weg. Es gibt bereits Lieder-Sammlungen.“


Herausragend: La Chicana, Alfredo “Tape” Rubín, La Vagabunda

3. Interpretinnen und Interpreten

„Interpretinnen und Interpreten‘ stehen für jene SängerInnen mit einem traditionellen Repertoire, das sich in der Breite auf die Klassiker stützt“, sagt der bekannte Säger Agustín Fuertes (siehe Foto). Das sei sehr populär, insbesondere vor einem wenig spezialisiertem Publikum, das die Hits des Genres liebt.

Im Großen und Ganzen gibt es da keine Unterscheidung in der Interpretation oder Ästhetik; der Kontext hier und heute ist jedoch ein anderer bezüglich der Vergangenheit“, findet der Sänger Fuertes. „Ich glaube, daß Interpretinnen und Interpreten eine zusammenführende Rolle haben. Als Protagonisten generieren sie Auftritte, auch mit Musikern. Einige sind fester Bestandteil einer Band, andere finden unterschiedliche Wege der Aufführung“, sagt Fuertes.

Herausragend: Lidia Borda, Ariel Ardit, Guillermo Fernández


4. Die Milonga-Orchester

“Der Tango-Milonguero ist jener, den die Tänzer vorziehen, wenn sie zu einer Milonga gehen“, erklärt Pablo Suárez (siehe Foto) vom Quartett „Cuarteto Mulenga“. Obgleich Suárez zugibt, dass es sich hierbei im Allgemeinen um konservativere und an den Klassikern orientierte Repertoires handelt, würden doch langsam innovativere Bräuche Einzug halten, sowohl beim Tanzen „aufgrund des Generationenwechsels“, als auch in der Musik.

„Auf einer Milonga wird vielleicht kein konzertanter oder neuer Tango gehört, doch das beginnt sich zu ändern.“ Diesbezüglich erklärt er: „Wo es früher verpönt war, neue Tangos in das Repertoire aufzunehmen, gäbe es heute Orchester wie „La Misteriosa Buenos Aires“, die z.B. Themen von Luis Alberto Spinetta integrierten. „Wir sind Orchester, die dem alten Repertoire neues Leben einhauchen – manchmal nur stilistisch – und sogar ein neues Repertoire schaffen.“


Herausragend: Orquesta Típica Misteriosa Buenos Aires, Orquesta Romántica Milonguera, Orquesta Típica Andariega

5. Tangos mit neuen Tendenzen

“‘Neue Tendenzen‘ ist eine riskante Definition zur Erklärung einer Suche nach neuen Horizonten und einem hundertprozentig neuen Repertoire“, erklärt Victoria di Raimondo (siehe Foto).

Die Sängerin aus der argentinischen Provinz Mendoza war Mitbegründerin der notorisch zeitgenössischen Band „Altertango“. Derzeit Sängerin im „Cuarteto La Púa“ erklärt sie: „Es handelt sich um den Tango aus der heutigen Welt, der sowohl die unmittelbare Vergangenheit wie auch die Gegenwart in Text und Klang wiederspiegelt.“ Obgleich diese Definition nahe an das neue Tangolied (siehe Der neue Tango Cancion, oben) herankommt, so ist doch die musikalische Struktur eine andere. Während das Tangolied, der Liedform eher treu bleibt, so brechen diese neuen Tendenzen mit dieser Formensprache.

Di Raimondo präzisiert: „Ich glaube nicht, daß es sich um eine avantgardistische Bewegung handelt. Es hat Kontinuität. Wir sind Musiker, Sänger und Texter, die einen tiefen Respekt gegenüber unseren klassischen Vorgängern empfinden. Wir sind keine Elternmörder, ganz im Gegenteil: es handelt sich um eine Kontinuität, die eine Vielfalt von Ausdrucksformen aufgegriffen hat“, überlegt Di Raimondo. Sie ist der Auffassung, daß es sich um eine Bewegung handelt, die „sein musste“ und ganz eigene Kreise generiert hat, „einerseits, weil sie institutionell nicht anerkannt wurde als solche und andererseits, weil ihr eine kristallisierte, klischeehafte traditionelle Form fremd geworden war: „Wir haben neue Auftritte generiert, mit denen wir uns identifizieren konnten, als Tangueros und Argentinier, nicht in Verschlossenheit, sondern als etwas Lebendiges, das in Bewegung ist.“


Herausragend: Altertango, Astillero, Pampa Trash

6. Electrotango


„Electrotango ist ein Tango, der ein technisches Instrument hinzugefügt hat“, sagt Max Masri (Foto) von der Band „Tanghetto“. „Für diese Art Bands ist die Technik ein wichtiger Bestandteil“ fügt er hinzu und weist auf Synthesizer, Loops und Samples als musikalisches Werkzeug hin. Auch – ggf. elektronische – Batterien oder Schlagzeuge trügen äußere Einflüsse in den Tango hinein, inklusive der Art ihn zu tanzen.

„Viele Bands beziehen ihre Einflüsse sowohl aus dem Tango als auch von außerhalb des Tangos; ein bißchen Ástor Piazzolla, ein bißchen Fusion, sie spielen und verbreiten einen Tango ohne Vorurteile,“ erklärt Masri. „Diese Bewegung ist wichtig für den Tango, weil sie erneuert und expandiert. Viele junge Leute begegnen so dem Tango zum ersten Mal, grade weil der Electrotango zeitgenössisch klingt. Insbesondere bei Spotify kann man einen massiven Zuwachs an Klicks wahrnehmen“, hebt er hervor.


Herausragend: Tanghetto, Otros Aires, Carlos Libedinsky


7. Der neue ‘Tango Criollo’


Der neue ‘Tango Criollo’ ist eine Bezeichnung für den ‚kreolischen‘ Gitarren-Tango, erklärt der bekannte Tango-Gitarrist Pablo Covacevich (siehe Foto). “Wir unterscheiden ihn von anderen Instrumentalformen, wie z.B. der „typischen“ Orchesterformationen. Ihn gab es bereits zur Zeit Gardels, und er hat es bis in die heutige Zeit geschafft, nicht nur als Gesangsbegleitung, sondern auch als ur-argentinische Instrumentalform. Ein Meister seines Fachs ist Roberto Grela. Covacevich gibt zu, daß – außer zu Zeiten Gardels – der Gitarrentango immer im Schatten der großen typischen Orchester gestanden habe, und sogar das Bandoneón präsentiere sich auf den Festivals mit größeren Starqualitäten als die Gitarre.

„Die Gitarre hatte früher als Volksinstrument eine gewisse Bedeutung, ist jedoch mit der Zeit in den Hintergrund geraten und wurde mehr als Begleitinstrument verstanden, denn als Instrument für die große Bühne und die Milongas“, sagt er. Abschließend sagt er, „daß die heutigen Gitarre-Bands zwar klanglich eine gewisse Ähnlichkeit mit jenen der Vergangenheit aufweisen, die meisten Musikerinnen und Musiker jedoch ihre eigenen Wege verfolgen, nicht nur als Arrangeure, sondern auch als Komponisten“.



Herausragend: Lacruz-Heler-Nikitof, Cuarteto La Púa, Dipi Kvitko

(Der Originaltext stammt von der spanischen Seite dieses Blogs. Für die Übersetzung ins Deutsche sorgte Dr. Stela Popescu-Böttger)

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