Was passiert heute mit populärer Musik? ist eine rhetorische Frage, die zur Reflexion einlädt – mit zahlreichen Antworten. Genau diese Frage stellt sich Juan Ignacio Di Pasquale jeden Monat im gleichnamigen Konzertzyklus. Dieser Konzertzyklus lädt ein zum stilistischen Austausch und zur Forschung, in dem das Gastgeberensemble Orquesta Típica Di Pasquale diesen Begegnungsort schafft. Das Besondere: Nicht nur teilt man sich einen Termin mit Formationen unterschiedlichster folkloristischer populärer Stilrichtungen, auch der Musiker, Dirigent und Komponist schlägt einen engeren Dialog vor – durch den Tango als Kanal – und arrangiert ein Stück des eingeladenen Musikers für die typische Orquesta, wodurch er mit Chamamé, Folk, Jazz und anderen Stilen interagiert. Ein künstlerisch-musikalisches Ereignis, das die große Bewegung der Erneuerung populärer Musik sichtbar macht. Bisherige Genres im Zyklus: Chamamé, Huayno, Musik von Djavan (Brasilien) und die Vidala im „Jazz“-Kontext.
Orquesta Típica Di Pasquale
Gegründet 2019, besteht das Repertoire der Orchester aus eigenen instrumentalen Kompositionen und Liedern. Mit vier Bandoneons, vier Violinen, Bratsche, Violoncello, Klavier, Kontrabass und einer Sängerin verfolgt die Típica Di Pasquale das Ziel, dem Tango-Korpus neue Kompositionen und Arrangements instrumentaler Tangos, Lieder, Walzer, Milongas, Zambas und Candombe hinzuzufügen.
Dabei wird bewusst an die Tradition der goldenen Ära des Genres und das emblematische Format der Orquesta Típica angeknüpft.
Kürzlich erschien ihr erstes EP „Continuidades, Vol. 1“ – ein Vorgeschmack auf das erste Album der Orchester, mit Victoria Di Raimondo (Gesang), aufgenommen 2021 im Estudios Fort unter der Leitung von Jorge „Portugués“ Da Silva. Im Mai begannen sie mit der Aufnahme ihres zweiten Instrumentalalbums.
Wie entstand die Idee dieses Zyklus?
Eine inspirierende – aber nicht die einzige – Wurzel dieser Idee war ein Interview in der Zeitung La Opinión Ende 1977. Dort wurde verschiedene Persönlichkeiten des argentinischen Rock und der populären Musik mit dieser Frage konfrontiert; zudem wurden Daten über Konsum und Verbreitung populärer Musik Argentiniens präsentiert.
Im Mittelpunkt der Diskussion: die Frage, ob es eine nationale populäre Musik gibt oder nicht – ein zeitloses Thema. Geladene Musiker waren unter anderem Charly García, David Lebón, Ariel Ramírez, Osvaldo Pugliese, Edmundo Rivero, Leda Valladares und Julián Plaza.

Interview mit Juan Ignacio Di Pasquale für Tango21.info
Tango21.info: Sechs Konzerte – wie war der Kurationsprozess? Welche Hauptachsen hast du bei der Vorproduktion berücksichtigt?
JIDP: Das Ganze entstand aus dem jugendlichen Geist: „Ich hab’ diese Platte entdeckt und will sie allen Freunden zeigen.“ Ich mache Tango, habe ein Tango-Orchester, bin tief eingestiegen. Dabei habe ich Jazz, Folk, Rock weiter genossen – bis ich bemerkte, wie sehr mich der Tango isoliert hatte.
Durch Internet bin ich mit Mili Caliva (Bandoneonistin, Chamamé & Litoral) befreundet geworden. Da entdeckte ich viele Musiker – und wollte sie allen Tangueros zeigen. In der Tango-Szene kennt man viele Tango-Gruppen; im Folklore-Nischenbereich ähnlich. Als ich „Mbejú“ (Folklore-Trio von Abel Tesoriere) hörte, dachte ich: „Wow, wie großartig!“
Es ging mir darum, diese Konzepte zusammenzubringen, sie in Dialog treten zu lassen. Diskussionen entstehen: Ist Jazz populäre Musik? Wir öffnen das, schauen, wie das Publikum reagiert – es sind meist stilaffine, nationale Konsumenten, die niemandem sagen: „Chamamé ist kein Folklore.“
Ich wollte eine abwechslungsreiche Mischung – Folklore, Chamamé, Jazz, Tango. Es kamen Mili Caliva, Noelia Sinkunas, Duo Bote (Flor Bobadilla & Abel Tesoriere) und zum Abschluss 2022 Nacho Amil mit jazzigem, freiem Ansatz. Ein Jazzsextett mit guaranischen Gesängen gemeinsam mit der Orquesta Típica – sehr interessant.
Zukunftsplan: Einladen von Murga-, Cumbia- und Singer-Songwriter-Gruppen. Die Frage „Was passiert mit populärer Musik heute?“ darf unbequem bleiben. Es geht darum, diesen Swings – von Chamamé, Huayno, brasilianischer Musik – musikalisch zu integrieren: Ohne sie klingt es nur nach Noten, nicht nach Musik.
Herausforderung beim Arrangieren für Orquesta Típica
Tango21.info: Welche Herausforderungen gab es beim Arrangieren?
JIDP: Wenn du viel mit Orquesta Típica arbeitest, nutzt du sie als Vehikel. Wenn das Trio funktioniert – super. Aber beim Orchester brauchst du ein anderes Handwerk; das half mir für diese Arbeit: diese unterschiedlichen Stile neu zu orchestrieren, weg von der üblichen Tango-Formel.
Beispiel: Ein Huayno ohne Schlagzeug – wir ersetzten die Percussion durch Bandoneon-Rhythmik. Diese Arrangements halfen, den Swing anderer Musikstile zu verstehen. Ein Chamamé in 3/4 sollte langsamer sein – erst so klingt er authentisch.
Beim Schreiben suchte ich Referenzen: Gobbi, Leopoldo Federico, Fresedo, Caló, Pugliese – alle Halfelder, von denen man lernen kann. Aber ein Orchester-Huayno-Arrangement gab es nicht – da musste man erfinden.
Perspektiven: Studioaufnahme & Zukunft
Tango21.info: Kannst du dir vorstellen, Musik des Zyklus im Studio zu dokumentieren?
JIDP: Definitiv. Andrea Bouhier (Programmiererin von Hasta Trilce) schlug vor, das Ganze gründlich aufzuziehen und aufzunehmen. Der größte Aufwand: Arrangement schreiben und Proben mit Gästen, oft auf die letzte Minute – das erforderte schnelle, einfache Lösungen.
Ich will, dass die Arbeit mehr ist als temporäre Konzerte – quasi eine „Vitrine“ für zeitgenössische Kolleg:innen. Wir beantragten das Projekt beim Nationalen Kunstfonds und Kultur-Mäzenatentum – als Album „¿Qué pasa con la música popular? Volumen I“, das nächstes Jahr erscheinen soll. Wenn es klappt, wird es zur Reihe, mit Tango-Exponenten wie Juan Quintero, Alfredo „Tape“ Rubin oder Edgardo Cardozo. Es wäre wunderbar.
Geplant sind genreübergreifende Dialoge: z. B. Jazzmusiker:innen spielen Huayno, Huayno-Musiker:innen adaptieren eine Vidala – um diese musikalischen Austausche zu fördern.