neoTango Rave in Bremen: Leuchtturm moderner Tangoevents(Teil 2)

Narcotango Duo (Foto: Jean-Pierre van der Loocke)

Live-Höhepunkte 2025


Der neoTango Rave 2025 hatte jeden Abend einen speziellen Höhepunkt. Am Freitag spielte Narcotango, eine der ikonischen Gruppen des modernen Tangos. Am Samstag Tangorra Orquesta Atipica, seit 15 Jahren eine der prägenden Bands des Electrotango, und am Sonntag wurde ein Live-Jam von Narcotango im Dialog mit der Berliner DJane Mona Isabell geboten. Die hohe Qualität der Gruppen wird ganz aktuell dadurch unterstrichen, dass sowohl Narcotango wie auch Tangorra, die mit der ausdrucksstaken Sängerin Eliana Sosa auftraten, für die Premios Tango Siglo XXI 2025 nominiert waren. Narcotango gewann diesen Preis für das 2024 erschienene Album Anarcolonga in der Kategorie Electrotango.

Allen drei Live Acts gelang es, mit ihrer Musik und Energie die Raver besonders zu bewegen und den neoTango Rave 2025 mit markanten Erlebnissen zu verknüpfen auf die viele Teilnehmer sicher noch Jahre zurückgreifen können.

Mit sehr persönlichen Noten war der Auftritt von Narcotango verbunden, der auf zweierlei Weise zeigte, wie stark das Event in der Community verankert ist und durch Tanguerilla auch verankert wird. Tanguerilla gedachte am Anfang des Konzerts mit sehr persönlichen Worten und musikalischer Untermalung durch Narcotango, den verstorbenen Berry Thompson und Raymond Lauzzana, die an vergangenen Raves entscheidend mitgewirkt hatten und sehr konstruktive Personen in der nTR-Community waren.

Am Ende des Auftritts von Narcotango ging der Rave für eine gewisse Zeit in eine Geburtstagsfeier über, weil Carlos Libedinsky in seinen Geburtstag hineingespielt hatte.

Soweit zur künstlerischen Dimension des neoTango Rave. Weniger spektakulär aber von profunder Bedeutung für die Gesamtstimmung und das Miteinander in der Community, ist die gesellschaftliche Dimension. Wir berichteten schon darüber, dass es eine low-budget Veranstaltung ist, die stark auf Teamwork setzt und zahlreiche Besucher zu aktiven Mitgestaltern des Events macht. Es gibt jedoch mehr Werte und Verhaltensweisen, die den nTR zu einem Event machen, die den Tango weiterentwickeln und ihn auch aus dem gesellschaftlichen Museum herausführen, welches oft noch gepflegt wird.

Tangorra feat. Eliana Sosa in Bremen 2025 (Foto: Jean-Pierre van Loocke)
Tangorra feat. Eliana Sosa in Bremen 2025 (Foto: Jean-Pierre van Loocke)

Rollenfreiheit und Gleichwertigkeit

Traditionell ist Tango ein Macho-Tanz: Männer fordern auf und führen, Frauen folgen. Zwar gibt es auch im klassischen Tango Nuancen, aber die Rollen sind klar verteilt. Der nTR durchbricht dieses Muster: Frauen fordern auf, Männer tanzen miteinander, Rollentausch von Führenden und Folgenden während eines Musiktitels ist besonders spannend. Heteros, Frauen- und Männerpaare, alle sind herzlich Willkommen.

Das soziale Klima wird dadurch entspannter, offener – ein Miteinander auf Augenhöhe. Beim nTR wird dies u.a. dadurch gefördert, dass der Freitag „Ladies Day“ ist. Das Auffordern der Frauen ist am Freitag Programm, allerdings scheint der Prozess des Aufforderns inzwischen auch ohne diese Regel schon sehr viel ausbalancierter geworden zu sein.

Die Rolle der Frauen wurde aber auch auf andere Art und Weise gestärkt, wie z.B. durch die Auswahl der DJs und VJs. Bei der Musikgestaltung wurden 5 Frauen und 5 Männer eingesetzt, bei der visuellen Gestaltung drei Frauen und zwei Männer.

Vom Regelkanon zur Freiheit

Ab den späten 1980er-Jahren wurde Tango in Europa nicht nur als Tanz, sondern auch als Regelwerk gelehrt. Diskrete Aufforderung über Cabeceo und Mirada, Trennung der Tänze in Tandas, Schweigegebot während des Tanzes – all das wurde als „authentische argentinische Codigos“ vermittelt. Wer sich nicht daran hielt, galt als Außenseiter. Diese Regeln schaffen jedoch oft soziale Distanz: Tanzpaare finden sich fast anonym, die in Argentinen üblichen 20 bis 30 Sekunden Chamuyo zu Beginn der Musik gelten als störend, und nach einer, zwei oder höchstens drei Tandas ist Schluss.

Dadurch wird es für unbekannte Gäste oder seltene Milongabesucher oft schwer, in die Community hineinzukommen und den Tango als sozialen Tanz positiv zu erleben. Vielmehr bilden sich kleine und große Zirkel und „Eliten“ in einer Milonga, die sich über längere Zeit kennengelernt haben und unter sich bleiben.

(Foto: Jean-Pierre van Loocke)

Beim nTR wird all das bewusst beiseitegelassen. Es geht um Kommunikation, Spontaneität, Lebendigkeit. Cortinas entfallen, die Tanzenden entscheiden selbst, wann sie aufhören oder wechseln wollen. Das Ganze geschieht mit Rücksicht auf die anderen Tanzpaare. Auch die DJs sind freier – in der Dramaturgie, der Auswahl, dem Mut zur Überraschung.

Kleidung und Körperlichkeit: Zwischen Repräsentation und Bequemlichkeit

Tango ist sinnlich – und mit Sinnlichkeit geht immer auch ein ästhetischer Anspruch einher. Kleidung, Duft, Ausstrahlung – all das spielt eine Rolle. Auf traditionellen Milongas tragen Frauen fast immer High Heels, sind sorgfältig gestylt. Männer zeigen sich selten in Farben oder unkonventioneller Kleidung. Auch das ist beim nTR anders. Nur etwa ein Viertel der Frauen tanzt hier auf hohen Absätzen – Bequemlichkeit, Gesundheit und Bewegungsfreiheit stehen im Vordergrund. Die Kleidung ist farbiger, lockerer, individueller. Es geht nicht um Dresscodes, sondern um Ausdruck. Diese Entspannung überträgt sich auf den Tanz: sinnlich ja – aber ohne Zwang zur Repräsentation.


Fazit: neoTangoRave als gelebte kulturelle Innovation

Der NeoTangoRave ist mehr als ein Festival. Er ist eine kulturelle Intervention im Tangokosmos und ein lebendiges Plädoyer für Offenheit, Vielfalt und künstlerische Freiheit. Die Musik ist aktueller, der Raum ist mit moderner visueller Kunst gestaltet, das soziale Miteinander ist freier, offener, weniger rollenfixiert als bei vielen anderen Milongas, Encuentros und Festivals – und gerade deshalb fühlt sich alles so zukunftsorientiert an. Nicht alles ist dabei neu und einzigartig in Bremen, aber das Gesamtpaket ist ein weithin sichtbarer Leuchtturm in der Landschaft moderner Tangoevents.

Weite Teile des Teams nTR 2025 (Foto: Jean-Pierre van Loocke)

P.S. Ein besonderer Dank geht an den enthusiastischen Fotografen Jean-Pierre van der Loocke. Er hat den neoTango Rave sehr ansprechend und genau fotografisch dokumentiert. Wir bedanken uns, dass wir einige seiner Fotos nutzen dürfen. Sehr viel mehr finden sich auf seiner Facebook-Seite (https://www.facebook.com/jeanpierre.vanloocke).

Der erste Teil des Artikels mit dem Schwerpunkt auf das künstlerische Konzept des neoTango Rave findet sich hier: (link).

Ein Interview mit Tangurilla, dem Gestalter des künstlerischen Konzepts und Organisator ist hier: (link)

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