Interview mit Janine Krüger
Musikwissenschaftlerin und Autorin des Buches „Heinrich Band. Bandoneon – Die Reise eines Instruments aus dem niederrheinischen Krefeld in die Welt“
Tango21: Janine, Heinrich Band stand mitten im Leben. Er war Musikalienhändler, Musiklehrer, Musiker und zwar Cellist. Was wollte er mit dem Bandoneon erreichen?
Janine Krüger: Heinrich Band kam aus einer Familie, die als Lohnweber und später als selbständige Weber arbeiteten und damit der sich emanzipierenden Mittelschicht angehörten. Später machte sich der Vater mit einer Musikalienhandlung selbständig. In diese stieg Heinrich bereits in jungen Jahren ein und sah, wie gut Harmonikainstrumente bei seinen Kunden ankamen.
Die Familie der Harmonikainstrumente insgesamt erlebte im 19. Jahrhundert einen eindrucksvollen Boom. Dabei ging es in der Entwicklung der Instrumente immer wieder darum, die technischen Möglichkeiten so zu gestalten, dass ein attraktives Repertoire gespielt werden konnte. Anfänglich wurde mit wenigen Tönen, z.B. mit 10- und 20-tönigen Harmonikas musiziert. Für die Mittelschicht waren aber populäre Arien, Tanzmusik, Volkslieder oder Klassikhits wie das Ständchen von Schubert attraktiv, denn das war die Musik, die in den Salons der Großbürger erklang. Um dieses Repertoire spielen zu können, mussten die Harmonikas weiterentwickelt werden.
Band ging es also vor allem darum, ein Instrument ohne musikalische Einschränkungen zu schaffen, auf dem man auch das klassische Repertoire, Ouvertüren oder Ballettmusik spielen konnte. Das Instrument sollte mit den damaligen Saloninstrumenten vergleichbar sein. Dafür entwarf er 1850 eine Tastaturanordnung für ein Accordion mit insgesamt 88 Tönen, verteilt über vier Reihen, und arrangierte dafür populäre Musikstücke. In seiner Accordionschule von 1850 erklärte Band auch, wie gespielt werden sollte und worin er die Qualitäten seines Instrumentenmodells sah. Damit trug er als Musikinstrumentenentwickler, Arrangeur und Lehrer erheblich dazu bei, dass die Mittelschicht musizieren konnte. Hier sehe ich den wesentlichen Verdienst Heinrich Bands: Er war sozialer Akteur, der seine Kunden dazu befähigen wollte, das gewünschte Repertoire zu musizieren. Beliebte Opern- und Ballettstücke nachzuspielen, sie also außerhalb ihrer Aufführungsorte klanglich zu reproduzieren, bedeutete damals vor allem kulturelle Teilhabe!
Die Entwicklung des Bandoneons versteht man aber nur, wenn man es als Teil einer großen und global verbreiteten Harmonikafamilie sieht, die im 19. Jahrhundert ein enormes Marktpotenzial entfaltete. Zu Zeiten Bands und noch Jahrzehnte später wurde das Bandoneon als eine hochwertig produzierte Variante des damaligen Accordions gesehen, wobei das Bandoneon mit seiner Rheinischen Tonlage von vier bis sechs Tastenreihen den größten Tonumfang bot. Heute haben wir einen sehr fokussierten, fast isolierten Blick auf das Bandoneon, aber auch nur, weil viele der damaligen Harmonikamodelle und der einstige Variantenreichtum in Vergessenheit geraten sind.
Tango21: Eine Detailfrage: Es gibt Überlieferungen, die besagen, dass Bandoneons auch für arme Kirchengemeinden gedacht waren, die sich keine Orgel leisten konnten. Was ist da dran?
Janine Krüger: Die Kirchenmusik gehört zu den sehr gut dokumentierten Teilen der Musikgeschichte. Hier habe ich keinerlei Hinweise gefunden. In den Lehrmethoden für das frühe Accordion und das Bandoneon sind zwar einige Choräle enthalten. Sie sind aber als Teil der damaligen Hausmusik zu werten. Die Funktion des Bandoneons lag stets in der populären Musik, nahe bei den Menschen, ihren Liedern und Tänzen. Auch wenn sich nicht bestätigen lässt, dass das Bandoneon als Orgelersatz entwickelt wurde, kann man nicht abstreiten, dass es im Kirchenraum einfach wunderbar klingt! Ich bin ganz sicher, dass man im 19. Jahrhundert Bandoneonisten für Konzerte in Kirchen gewinnen konnte. Daraus aber einen Ursprungsgedanken für das Instrument selbst abzuleiten, wäre nicht richtig.
Die falsche Überlieferung, dass das Bandoneon als Orgelersatz diente, ist musikwissenschaftlich dennoch interessant. Ich sehe hier einen Bezug zum Harmonium, ein damals äußerst populäres Tasteninstrument mit Registern für verschiedene Klangfarben, das sowohl in Salons als auch als Orgelersatz in der Kirche verwendet wurde. Die Nähe des freistehenden Harmoniums zu den Handharmonikas führte eventuell dazu, dass in der Überlieferung einige begriffliche Ungenauigkeiten zu falschen Aussagen führten.
Natürlich kannte Band das Harmonium und stellte sogar seine Musikalienhandlung für die Vorstellung belgischer Fabrikate zur Verfügung. Das Harmonium und seine Varianten wiesen Ähnlichkeiten zur Tonerzeugung der damaligen Accordions auf und entsprachen ganz den damaligen Ansprüchen: selbst zuhause Musik machen, den Ton nach eigenen Vorlieben modulieren und aus den Klangfarben eines Orchesters auswählen. Der Gedanke des „kleinen Orchesters“ ist auch in Heinrich Bands Werbematerialien zum Bandoneon zu finden. Er bezieht die Klangeigenschaften der beiden Seiten des Bandoneons direkt auf die Höhen und Tiefen des Orchesters. Das richtige Feilen der Stimmzungen war hierbei ganz wichtig, denn dadurch konnten klangliche Nuancen herausgearbeitet werden. Band war also mit Sicherheit von der Klangvielfalt und den Gestaltungsmöglichkeiten des Harmoniums fasziniert, wahrscheinlich sogar für seinen eigenen Entwurf inspiriert. Der Orgelersatz war aber nachweislich das Harmonium und nicht das Bandoneon.
Tango21: Ein heiß diskutierter Aspekt ist, inwieweit Band zur technischen Entwicklung des Bandoneons beigetragen hat, oder ob er einfach nur als cleverer Kaufmann mit seinem Namen eine Marke geschaffen hat. Wie siehst Du das?
Janine Krüger: Der Punkt wird wirklich heiß diskutiert und die Beantwortung dieser Frage ist recht komplex. Das liegt zunächst an den damaligen Produktionsbedingungen. Diese waren von einer sehr hohen Arbeitsteilung und vielen kleinen, selbständigen Heimwerkern geprägt. Ganz klar ist, dass Band nicht selbst Instrumente hergestellt, sondern die Produktion seines Entwurfs bei sächsischen Fabrikanten in Auftrag gegeben hat. In Sachsen gab und gibt es bis heute eine sehr dynamische Instrumentenproduktion. Band hat zunächst bei Carl Friedrich Uhlig aus Chemnitz Accordions aufgekauft und dann auch seinen Instrumentenentwurf von Uhlig produzieren lassen. Viele Produktionsstätten waren vor allem Auftragsnehmer, z.B. die Harmonikaproduktion in Waldheim. Andere Produktionsstätten, wie z.B. die von Uhlig und Zimmermann, entwickelten eigene Instrumentenmodelle, fertigten aber durchaus auch Fremdentwürfe an. Obwohl Band keine Instrumente baute, hatte er ein tiefes technisches Verständnis, welches ihm erlaubte, die Instrumente sowohl zu reparieren als auch zu stimmen. Er hat einige Jahre vor seinem Tod sogar eine detaillierte Anleitung zum Reparieren und Stimmen von Harmonikainstrumenten verfasst.
Man muss außerdem bedenken, dass Bands 88-töniger Entwurf über vier Reihen damals eine Besonderheit war, vergleichbar mit einem 5-saitigen Kontrabass. Band versuchte, einen spezifischen Tonumfang und Griffmöglichkeiten zu realisieren, die für das Repertoire seiner Zielgruppe wichtig waren. Und er ließ die bisherigen Töne dort, wo sie von den Spielern erlernt waren. Die Kernzonen blieben sozusagen unberührt. Spieler und Instrumente konnten zusammen organisch wachsen und dem Ziel eines orchestralen Klangs näherkommen. Das war zunächst eine erfolgreiche kommerzielle Strategie. Aber das Prinzip des „Mitwachsen“ war für einen Musiklehrer auch eine Selbstverständlichkeit, um Anfänger mit einem übersichtlichen Instrument vertraut zu machen und dann den Wechsel auf ein größeres Instrument zu ermöglichen. Dass hierbei die Kernzonen bereits vertraut waren, macht den Wechsel einfach und motiviert dazu, die Fähigkeiten und das Repertoire zu erweitern.
Ein weiterer Punkt wäre der damalige Instrumentenmarkt. Sämtliche Formen des Accordions boomten. Es gab sehr viele verschiedene Techniken, Designs und Tonbelegungen. Innerhalb dieses dichten Marktes bestand die Notwendigkeit, das Bandoneon von anderen Accordions abzugrenzen. Sächsische Hersteller wie z.B. Carl Friedrich Uhlig und Carl Friedrich Zimmermann haben das für ihre Concertinas ebenfalls gemacht und ihre Instrumentenmodelle und technische Erweiterungen intensiv beworben. Es ging darum, der musikinteressierten Kundschaft zu vermitteln, dass die größeren Harmonikas eigene Identitäten besaßen und dass der jeweils eigene Instrumentenentwurf der beste ist. So kam es zum Namen Bandonion (später Bandoneon) und dann zur weiteren Abgrenzung der Tastatur als Rheinische Tonlage. Erst mit der zeitlichen Distanz wissen wir, dass sich Bands Modell bewährt hat und diese faszinierende Entwicklung in Lateinamerika durchlaufen konnte.
Tango21: Heinrich Band starb bereits 1860, da begann sich der Tango erst zu entwickeln. Die Bandoneons, die nach Lateinamerika geliefert wurden, wurden inzwischen von den Arnolds und anderen produziert. Wie kommt es, dass das Bandoneon im Tango zu einer neuen Blüte kam?
Janine Krüger: Hier befindet sich die Forschung nach in den Anfängen. Heinrich Band selbst hat dies nicht mehr miterlebt und auch sein Bandoneon wurde nicht für den Tango entwickelt. Und doch gibt es Instrumenteneigenschaften, die bereits angelegt waren und welche durch die späteren Fabrikanten für die Exportinstrumente weiter ausgebaut wurden. Eine Verbindung zwischen den Instrumenten Bands und den späteren Tangomodellen ist beispielsweise die Modulierbarkeit des Tons. Band hat sich eher an der melodischen Linie orientiert, die im Idealfall nicht unterbrochen wird. Durch den Luftstrom lässt sich diese Linie auch nach dem Drücken einer Taste modulieren. Die späteren Bandoneons konnten mit ihrem höheren Gewicht von dieser Möglichkeit und der verfeinerten Balgnutzung noch viel differenzierter Gebrauch machen und dadurch die rhythmische Seite der Tangoartikulation erweitern. So wie Band bei der Weiterentwicklung des Accordions auf sein Publikum und dessen Repertoire geschaut hat, so haben dies Fabrikanten und Exporteure wie etwa die Gebrüder Arnold ebenfalls getan. In meinem Buch kommen einige Instrumentenbauer zu Wort, die in Bezug auf die Exportinstrumente bereits einige interessante Untersuchungsimpulse geben. Es wäre großartig, wenn das Buch, das vom Förderverein für das Kulturbüro der Stadt Krefeld herausgegeben wurde und nun von Vanina Steiner in spanischer Sprache verlegt wird, die Bandoneonforschung auch in diesem Gebiet weiter voranbringt.
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