10 Jahre Tango Crítico: Tanzen in der Folterkammer

Foto: Máximo Parpagnoli

Tango Crítico versteht sich als Kollektiv bestehend aus LehrerInnen, TänzerInnen, MusikerInnen und AnthropologInnen, die sich für den Tango und sein Gedächtnis interessieren und ihn vor allem von seiner soziologischen Seite aus aufarbeiten wollen. Als Ort der Tätigkeit wurde das ehemalige Gefangenen- und Folterlager namens Olimpo im Stadtviertel Floresta von Buenos Aires gewählt – heute eine Gedächtnisstätte. Die Gruppe begann ihre Arbeit am 13. September 2012 in der ehemaligen Olimpo-Anlage, nachdem sie ihr Projekt bei der Stadtverwaltung vorgelegt hatte.

Seit 10 Jahren bietet das Kollektiv Tanzworkshops an diesem Ort an. Am 3. September wird dort eine Milonga organisiert, mit dem Ziel, die getane Arbeit zu konsolidieren. Begleitet wurde das Event mit Führungen durch die Anlage, Tangostunden, einer Photoausstellung und Liveorchester-Vorstellungen.

Christian Martìnez hat mit Claudia Marra und Darío Garcia ein Gespräch geführt; sie sind als Dozenten der Gruppe Tango Crítico tätig.

Geschichte des Gefangenen- und Folterlagers Olimpo


Das ehemalige Olimpo funktionierte als geheimes Vernichtungslager vom 16. August 1978 bis Ende Januar 1979 im Stadtviertel Floresta von Buenos Aires. Die Einrichtungen wurden unter Verwertung der Anlagen des Sportclubs CCDTyE für diese Zwecke gebaut.

Etwa 500 Personen wurden im ehemaligen Olimpo festgehalten, viele davon waren Militante politischer Organisationen, wie zum Beispiel der Montoneros, des PRT, PCML oder ERP, einer Volksmiliz; die meisten von ihnen gelten heute noch als Vermisste.

Im Jahr 1979 wurde Olimp zur Verschleierung seiner Aktivitäten abgebaut, angesichts der für das Folgejahr angekündigten Besuche der Interamerikanischen Menschenrechtskommission CIDH und der Organisation Amerikanischer Staaten OEA.

Hernach blieb das Olimpo bis zum Jahr 2005 im Besitz der Bundespolizei.

Am 8. Juni 2005 ging das Gebäude an die Stadtverwaltung von Buenos Aires über. In diesem Umfeld wurde dann ein Programm erstellt, um das historische Gedächtnis des CCDTyE „Olimpo“ wieder herzustellen.

Interview mit Claudia Marra und Darío Garcia
Dozenten des Kollektivs Tango Crítico

Christian Martínez: Tango Critico wurde 2011 gegründet. Wie kam es zur Entstehung eines Workshops in dem ehemaligen Olimpo? Wie habt Ihr das Projekt vorgestellt? Da gab es doch Vorbedingungen.

Claudia Marra: Als Kollektiv wurde Tango Critico 2012 gegründet, und zwar zeitgleich mit der Erlaubnis der Nutzung des ehemalige Olimpo. Seit 2010 gab es bereits in unserem Viertel – in der Nähe des Gefängnisses von Devoto in Buenos Aires – eine Zusammenarbeit mit der gleichen Idee, nämlich „den Tango zurück in die Stadtviertel“ zu bringen. Dort fand mit viel Glück eine sehr traditionelle Milonga statt. Zum Olimpo gelangten wir über Eigeninitiative. Wir kannten die Örtlichkeit und einige Kollegen, die dort studierten oder Kurse leiteten. Sie ermutigten uns: „Ihr müsst hierherkommen und hier etwas aufbauen!“ Und gut, wir haben darüber nachgedacht und ein Projekt entwickelt, das wir der Stadt vorgeschlagen haben und dann dort angefangen…

Der Ort an sich setzt bereits Prioritäten. Die Stadt schreibt einige Dinge vor, und andere ergeben sich aus der Praxis. Es braucht einen Grund, an dieser Stätte des Gedächtnisses Aktivitäten zu entwickeln. Dieser Ort kann nicht gemietet werden. Er wird auch nicht als Kultur- oder Gemeindezentrum genutzt. Die Aktivitäten sind unentgeltlich, die Workshops sind frei zugänglich

Foto: Máximo Parpagnoli

Christian Martínez: Wie waren die ersten Jahre im ehemaligen Olimpo? Was gab es zu Lernen in diesem so anderen Umfeld, im Vergleich zu einem Club im Stadtviertel oder einem Kulturzentrum?

Claudia Marra: In den ersten Jahren gab es viel zu Lernen. Es mussten viele Personen mit ganz unterschiedlichen Bedürfnissen verwaltet werden. Auch gab es diese Auseinandersetzung zwischen dem traditionellen Tango in Verbindung mit der traditionell verhafteten Lehrtätigkeit. Da kommt jemand, der alles weiß, und ich füge nichts hinzu. Ich muss eine neue Sprache finden, Räume für den Dialog und den Austausch öffnen; die Logik der Örtlichkeit begreifen und ihre Wandelbarkeit, ohne das Grundlegende dabei zu verlieren und doch den Horizont zu erweitern. Die Möglichkeiten de Tangos und die der öffentlichen Bildung sind beinahe unendlich. Die Künste haben dieses Potenzial, sich auf andere – weniger bedrückende – Weise auszudrücken und zu vermitteln. Da finde ich kein besseres Wort als Pädagogik.

Darío García: Wie Claudia schon sagte, in den ersten Jahren mussten wir uns neu erfinden, die Workshops umgestalten, nicht nur in ihrer Didaktik, sondern auch in der Betrachtungsweise des Tangos, der Örtlichkeit, des Gedächtnisses, der Aktualität und aller Befürchtungen. Wir mussten Mehrarbeit leisten, uns öfter zusammenfinden und jeden Workshop auf diese Achsen hin orientieren. Unser Ansatzpunkt war die öffentliche Bildung, daher mussten wir auch erneut das Zuhören lernen.

Christian Martinez: Wie seid Ihr mit dem Stadtviertel, den tagtäglich vorbeikommenden NachbarInnen zusammengekommen, um das Interesse an Eurem Projekt und für diese Örtlichkeit zu wecken? Wenn neue Teilnehmer erscheinen, kommen sie da mit irgendwelchen Erwartungen?

Claudia Marra: Das Konzept des Workshops ist es, eine andere Möglichkeit des tieferen Kennenlernens und Durchschreitens dieses Ortes des Gedächtnisses bereitzustellen; das Warum der Existenz solcher verborgenen Orte und die Wichtigkeit, sie zu erklären und mit neuer Bedeutung zu füllen. Ja, alle kommen mit einer Erwartungshaltung. Dann gibt es auch diesen leidigen Blick „for Export“ auf den Tango: die Frau tut dies so und so, der Mann macht es so und so. Manche nehmen unser Angebot an, für andere ist es schwierig, sich darauf einzulassen. Desgleichen geschieht auch mit der politischen Sichtweise. Es ist kein Kulturzentrum, es ist ein Ort des Gedächtnisses, und wir werfen einen politischen Blick auf den Ort, den Workshop, die Bildung und die Pädagogik.

Darío García: Hinzufügen möchte ich noch unsere kommunikativen Bestrebungen, nach außen hin sichtbar zu werden, über unsere Netzwerke und mit Flugblättern zum Beispiel. Auch wurde versucht, den Ort museal zu nutzen, in der Nacht der Museen oder auch von den verschiedenen Regierungen. Diese etwas – sagen wir – oberflächliche Nutzung hatte immer den Zweck, die Menschen dorthin zu führen, und unsere Aufgabe war es, diese Aktivitäten mit noch mehr Inhalt zu füllen.

Christian Martínez: Es gibt allgemeine Vorstellungen in der Gesellschaft von dem was „Tango“ und was „Gedenkstätte“ bedeutet. Da ist unter anderem auch die Rollenverteilung des Führenden und Geführten. Wie dekonstruiert Ihr diese Stereotypen und Vorstellungen – mehr noch, an einem Ort, der diese negative Energie birgt? Diese Arbeit erfordert eine neue Blickrichtung.

Claudia Marra: Davon erscheint Einiges in unseren vorherigen Antworten. Es gibt wenig Vorerfahrung bezüglich des Formats von Tango-Workshops an Gedächtnisstätten und weniger noch in Bezug auf die öffentliche Bildung. So mussten wir lernen, voneinander und von jenen die kamen und noch kommen.

Bezüglich der negativen Energie – und da spreche ich 100%ig für mich – ist das eher subjektiv Erlerntes aus den Dingen, die hier passiert sind und die man sich vorstellt. Tatsächlich sind furchtbare Dinge hier geschehen, die die Vorstellungskraft weit übersteigen. Die Möglichkeit des Kümmerns und Wiederbedeutens kommt von der Seite der Resistenz her, aus dem Lernen und der Gruppendynamik heraus… unserer Halsstarrigkeit und Schwerfälligkeit bezüglich dieser und anderer Dinge zum Trotz zeigen wir, was da ist. Sie waren nicht in der Lage, ALLES zu zerstören!!

Darío García: Dazu möchte ich noch sagen, daß diese Vorstellungen zu den ehemaligen verborgenen Orten und dem Tango sich so darstellen, daß Du früher hier vorbeigingst und Tango hörtest, während hinter diesen Mauern Menschen furchtbar leiden mussten. Die Tatsache, daß wir heute Tango hören und Murga, Lachen, spielende Kinder, ist die Referenz dafür, daß sie es nicht geschafft haben, die Scheißmilitärs mit ihrem ganzen Hass, sie haben es nicht geschafft.

Christian Martínez: Arbeitet Ihr nach einer bestimmten Methode oder Gedächtnispraxis? Was für Aktivitäten organisiert Ihr, um Gedächtnis und Tango miteinander zu integrieren?

Claudia Marra: Das ist schwierig; ich glaube, über den Dialog, die individuelle Erinnerung, aus der die kollektive Erinnerung entsteht, …damit, über die institutionalisierten Erinnerungen nachzudenken und zu versuchen, diese zu ergänzen. Tango und Gedächtnis wird punktuell integriert: das sind soziale, kollektive, veränderbare Produkte, keine stagnierenden. Sich an diesem Ort heute zu umarmen ist ein kleiner Sieg! Sich mit jemandem hier zu bewegen bedeutet, aufeinander zuzugehen und zu spielen. Wenn unsere Gefährten sich früher mit jemanden dort bewegten, dann war es gefesselt an ein metallenes Bettgestell und auf dem Weg zum Abtransport.

Darío García: Wir pflegen einen Stil im Workshop, der diese Fragen einbezieht, das könnte als Methodologie bezeichnet werden.

Foto: Máximo Parpagnoli

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