Tango, ein Gefühl, das man filmen kann: Das wachsende Phänomen einer neuen Videoclip-Ästhetik

El Cachivache

Von Andrés Valenzuela, Buenos Aires.
Die heutigen Tango-Ensembles streben unwiderstehlich nach neuen visuellen Formen, ihre Musik zu präsentieren – weg von den verstaubten TV-Tangosendungen, wie z.B. die „Grandes valores del tango“ der 70er, mit ihren statischen Orchestersaalaufnahmen. Klickzahlen auf Youtube bestätigen, dass ein breiteres Interesse vorhanden ist.

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Federico Ottavianelli, besser bekannt als Vruma und Alma Mater von “Vruma y los Dínamos” bemerkt: „Das Verrückte ist, daß Gardel uns nicht nur seinen wunderbaren Gesang und seine tollen Werke hinterlassen hat, sondern er war auch der Erste auf der Welt, der Filmclips gemacht hat!“ Federico „Vruma“ und andere aktuelle Tangomusiker haben sich mit den audiovisuellen Medien befassst, nachdem es lange Jahre nichts anderes gab als den alten Frontalstil der „Grandes valores del tango“. Die neuen Inszenierungen entfernen sich vom traditionellen Tangoquadrat. Kleine Geschichten werden erzählt, und es gibt sogar Serien mit mehreren Folgen. Immer noch steht das enge Zusammenspiel der Paare im Vordergrund, jedoch mit einer neuen Ästhetik: weniger gegelte Haare, mehr Turnschuhe und unerwarteten Szenerien.

Kürzlich waren es Lucrecia Martel und ihre Partnerin Julieta Laso, die mit einigen Videos zu ihrem neuen Soloalbum überraschten. Das „Sexteto Fantasma“ wagt technische Experimente, wie das mit einer 360-Grad Kamera gefilmte Video zeigt. Trotzdem ist das Filmen von Live-Auftritten weiterhin sehr beliebt – belegt durch die Schnelligkeit, mit der die Aufnahmen editiert und in die sozialen Medien hochgeladen werden. Die aktuellen Orchester und Ensembles haben jedoch verstanden, daß auch größerer Aufwand Früchte trägt.

Die Youtube-Statistiken bestätigen diese Tendenz. Das Cachivache-Quintett erreichte 395.000 Klicks für ihre beiden Versionen von „Montán“, während „El viajero“ knapp 60.000 erreichte. Für den Tango sind das gute Zahlen. Das Orchester „Romántica Milonguera“ ist sogar ein Phänomen: seine Version von “Poema” hat in der ersten Videoclipserie bei Youtube mehr als 1.600.000 Besuche erreicht. Es gibt einige Andere, die die halbe Million knacken, sogar ohne weitere Onlinepräsentationen auf Plattformen wie Facebook dazuzurechnen.

„Videoclips ermöglichen eine angewandte Fortführung neuer Ästhetiken. Im Falle der „Romántica Millonguera“ ist es ein ‚Peronisten-Pin-Up‘: ein – Was wäre gewesen, wenn Perón `55 nicht gestürzt worden wäre, und die Jugend dem Tango gefrönt hätte, statt zum Rock überzuwechseln?“, mutmaßt Lucas Furno. Er ist Direktor des Orchesters und gemeinsam mit dem Pianisten Tomás Regolo einer der Köpfe bezüglich audiovisueller Ensemble-Ideen. Seine ersten Videoclips – die „an nur einem Tag in einem alten kleinen kolonialen Waggon-Haus“ gedreht wurden – schlugen sofort beim Publikum ein. Die Protagonisten wurden bekannte Persönlichkeiten im Netz. In den folgenden Videoserien traute sich das Orchester auch andere Trends der Gruppe zu zeigen, wie z.B. die „camp sesentosa“-Ästhetik, die im Barrio Chino (dem chinesischen Viertel von Buenos Aires, Anm.d.Üs.) mit einer Camp-Schlacht im Stil von Adam Wests „Batman“ umgesetzt wurde. Die neueren zwei Clips – mit der inzwischen neu dazu gekommenen Singstimme der jungen Huilén – verbanden klassische Elemente wie den alten Winco-Plattenspieler mit heutigen Disco-Elementen. Mit der „Romántica Milonguera“ versuchen wir Brücken zu schlagen, und dies suchen unsere Videos auch zu zeigen. Nehmen wir die Leute in ihren Zwanzigern, die nie Tango gehört haben und gut drauf sind, weil sie (bei uns, Anm.d.Üs.) junge Leute sehen und Leute in den Vierzigern, die sich nicht im Rock wiederfinden, obwohl sie noch nie Tango gehört haben. Und dann kommen wir zu den Siebzigern, die ihn erlebt haben, und die Videos sehen, als wären sie aus den Vierzigern oder Fünfzigern. Es ist ein Spiel“, entwickelt Furno sein Konzept und fügt noch hinzu, es sei eine Möglichkeit, Menschen „mit Geschichten“ anzulocken. Ganz grundsätzlich findet er, sollte der Tango auch als Fiesta wahrgenommen werden: „Er ist langweilig, wenn Du ein Langweiler bist, aber: Ausgehen und eine tolle Zeit verbringen – diese Message kommt an!“

“Wir kommen aus der Ära des Rocks, und der Videoclip spielt dort eine wesentliche Rolle“, denkt Vito Venturino von „Cachivache“. „Der emporkommende „Tango Punk“ konjugiert mit einer klassischen Basis, einer sogenannten ramon’schen mit ‚Marcatos‘, die – ja! – pugliesischen und darienzischen (sic) Punk jenen vermitteln, die es heraushören können. Am Anfang haben wir nur gespielt, aber mit den Jahren, begannen die Leute Videoclips zu erwarten, gar zu fordern – sie wurden Teil unserer Arbeit als Band. Dieses Jahr haben wir fünf herausgebracht”, erzählt der Gitarrist. „Cachivache” hat sich auch in eher narrativen Videos versucht, wie z.B. in „El Viajero“, wo die Band den Tänzer Gastón Tonelli ‚jagt‘. Derzeit verfolgen sie jedoch einen mehr konzeptionellen Stil: „In den Videos versuchen wir eine Musik zu symbolisieren“, erklärt Venturino. „Wenn ein Thema sehr dicht ist, brauchen wir auch dichte Bilder; die letzte CD, die wir herausgebracht haben, ist eher minimalistisch konzeptionell, und die letzten Videos begeben sich mit auf diese Suche.“ Die Bandmitglieder von „Cachivache“ sind sich der Notwendigkeit einer audiovisuellen Präsenz derart bewusst, daß sie einen Sammelaufruf für das Erstellen eines Dokumentarfilms zu ihrer nächsten Tournee gestartet haben.

Das Videoclip-Phänomen – dessen sind sich all die von uns Angefragten sicher – entstammt der Aktivität sozialer Medien. Es hat auch bereits andere Segmente des Tangos erreicht. Martín Chili organisiert eine Milonga, die jeden Montag von Cusca Risun in San Telmo ausgestrahlt wird und maßgeblich ihre wachsende Beliebtheit auf Präsenz in den Onlinemedien zurückführt. Eine wichtige Rolle spielt dort auch die Werbung mit bekannten Tänzerinnen und Tänzern. Chili will „interessante und ehrliche Spots mit dem was ich mache. Ich möchte das Tangoambiente wieder menschlicher gestalten und die Jungs mehr erden“, sagt er. „Der Tango ist stigmatisiert als ‘Alterserscheinung’, dabei ‚rockt‘ er mehr als Vieles andere. „Ich weiß nicht, wie viele Leute an einem Montag ausgehen – das bleibt hängen! ..auch Dienstag oder Mittwoch, da ist ein gutes Ambiente, und ich glaube, die Spots helfen, diese Vorurteile von drei rauchenden verbitterten Alten zu vertreiben, das hat nichts mit dem zu tun, was wir erleben. Wir müssen die Technologie auf unsere Seite ziehen.“ Venturino stimmt ihm zu: „Den Leuten, die weder Musik machen noch tanzen sagst Du ‚Tango‘, und das erscheint wie eine Sache von einem anderen Planeten. Die Clips jedoch helfen einer Öffnung, sodass die Leute Mut fassen und wahrnehmen, dass man kein Tanguero/a sein muss, um Tango zu hören.“

In diesem Sinne hebt Ottavianelli die Bedeutung des Videoclips als Werkzeug hervor. Jedoch sollte im Zusammenhang mit einer frischen Ästhetik auch eine musikalische Erneuerung einhergehen. „Persönlich mag ich Etwas, das beeindruckt, Erstaunen erregt, aufregt oder Grenzen überschreitet; ich glaube, dass wir so das Genre nach vorne tragen können.“
Quelle: Pagina12
Übersetzung: Stela Popescu – Böttger

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