Politische Tangos I

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Buenos Aires 1930

Lieder zum Aufrühren



I – Ein bißchen Geschichte


Dies ist der erste Teil von vieren, die man mit dem Titel „politische Tangos“, „Protest oder aufrührerische Tangos“, überschreiben könnte. In meinem Buch „TANGO POST 2001” erklärte ich bereits, dass ich nicht an die Hypothese glaube, dass Tangos sich jemals gegen die Hegemonie der jeweils regierenden politischen Macht gewendet hätten. Ich glaube eher, mit den Worten Javier Campos‘: „…dass das Material politischer Tangos weitaus weniger ergiebig ausfällt als das Material unpolitischer Tangotexte – und etwas anderes zu behaupten, wäre Geschichtsklitterung und ein Zurechtrücken von Fakten, die wir gerne anders wahrgenommen hätten“.
Nichtdestotrotz finden sich als Konstante in den Tangos des 21.Jh. Texte, die die sozialen und menschlichen Konflikte unserer Gesellschaft thematisieren: Ungerechtigkeit, Gewalt, eine kontaminierte Stadt und Enteignung. Es verhält sich nicht so, daß Zeitzeugenberichte, Proteste oder Anklagen allein unserer Generation des 21.Jh. angehörten. Man erinnere sich an die Zeit der Aufstände und Streiks zur Jahrhundertwende des 19./20.Jh., wo der Geschichtsforscher Osvaldo Bayer fündig wurde und einen anonymen Tango aus dem Jahr 1901 ausgrub mit dem Titel „Guerra a la burguesía“ (‚Krieg der Bourgoisie‘, Anm.d.Üs.).

„Guerra a la burguesía” gespielt von den “34 Puñaladas” – heute genannt „Bombay Buenos Aires”.

Ein scharfzüngiger Ángel Villoldo dichtete 1903 „Matufias o el arte de vivir” (‚Schmutzige Geschäfte oder die Kunst des Lebens‘, Anm.d.Üs.):

“(…) Se presenta un candidato, / diputado nacional / y a la faz de todo el mundo / compra el voto popular. / Se come asado con cuero / y se chupa a discreción, / celebrando la matufia / de una embrollada elección (…)”.

…Da präsentiert sich ein Kandidat, / als Abgeordneter des Staats, / und vor den Augen aller, / Wählerstimmen kauft er. / Zünftig greift er zu am Grill, / trinken tut er auch ganz viel, / feiert das schmutzige Geschäft, / einer Wahl, die ohne Recht…

Ähnliches liest man bei den Anarchisten-Sängern, die ihre Beschwerden hinausrufen und ihren Kampf dem Rhythmus einer Milonga anpassen:

“(…) Vendieron ferrocarriles / la patria también vendieron, / todos los bancos fundieron / y empeñaron la nación. / Mancharon el pabellón / cubriendo ignominia tanta / y el pobre pueblo se espanta / temiendo la inquisición. / Para poder destruir / tanto robo y tiranía / yo proclamo la Anarquía, / destructora de tiranos. / Campesinos y artesanos / ya se declaran en guerra / para hacer sobre la tierra / todos los pueblos hermanos (…)”

Sie verkauften die Staatliche Eisenbahn, / Und die Heimat noch hinzu, / die Banken ließen sie untergehn‘, / die Nation gab’s als Pfand dazu. / Sie verschmutzten den Pavillon, / mit Demütigungen ohne Zahl, / das entsetzte Volk hat keine Wahl, / und fürchtet die Inquisition. / Um so viel Raub und Tyrannei / endgültig zu verbannen, / proklamier‘ ich die Anarchie, / und zerstöre die Tyrannen. / Handwerker und Bauern erklären den Krieg, / um die Menschen auf Erden / zu Brüdern lassen zu werden…

Argentinien heute

Wenn ich mich von dem sinkenden Schiff Argentiniens nicht retten kann, und da spreche ich von der Gegenwart, erkenne ich in einigen alten Tangos die Aktualität und Wiederkehr einer alarmierenden Vorhersage. Sofort kommt mir da ‚‚Pan” in den Sinn, (‚‚Brot“, Anm.d.Üs.) von Celedonio Flores und Eduardo Pereyra:

“¿Que pasa, limosna, por qué? / Recibir la afrenta de un ‘perdone, hermano’ / Él, que es fuerte y tiene valor y altivez. / Se durmieron todos, cachó la barreta / Si Jesús no ayuda, que ayude Satán, / Un vidrio, unos gritos, carreras, auxilio, / ¡Un hombre que llora… y un cacho de pan…!”

Was ist los? Almosen, warum? / Der Affront eines „Verzeih mir, Bruder“, / von dem der einst stark und mutig und stolz. / Verschlafen sind alle, / Wenn Jesus nicht hilft, dann der Satan, / Glas bricht, Schreie, Gerenne, Hilfe! / Ein Mann weint… um ein Stück Brot.

‚‚Pan”, Morocho del Abasto,1932 (‚Brot’, Lied im Film über das Leben Carlos Gardels, übersetzt ‚Der Schwarzhaaarige des Abasto-Viertels‘ aus dem Jahr 1932, Anm.d.Üs.)

Ein anderer fast vergessener Tango ist ‚‚¿Y a mí qué? (‚Was schert’s mich?‘, Anm.d.Üs.), nicht zu verwechseln mit jenem von Aníbal Troilo und Cátulo Castillo, sondern der von Fernández Blanco y Juan Canaro:

‚‚Anda el mundo más revuelto que sambayón; / gripes, huelgas, chimentadas a tres por diez; / nadie cacha un triste mango, ¿y a mí qué? / Unos piden el reparto y el libre amor; / otros dicen que el fascismo será mejor.”

Die Welt, geschlagener als Zabaione-Pudding, / Grippen, Streiks, Gerüchteküchen, drei für´n Zehner / Keiner ergattert ´nen Heller, was schert’s mich? / Manche fordern Umverteilung, freie Liebe / Andere zieh´n Faschismus vor für s

Kritik an den Lebensbedingungen hart arbeitender Menschen liest man aus den Zeilen des „El jubilado“ (‚Der Rentner‘, Anm.d.Üs.) von Luis Alposta und Edmundo Rivero heraus:

‚‚Fue un viento de vigilia el que lo trajo. / Quedó varado en un rincón del feca. / Le habían afanado hasta la bronca, / lo habían revoleao… y salió ceca. / Cómo no habría de quedar pagando, / en actitud entre siniestra y mansa, / si después de yugar toda una vida / acabó por morfarse la esperanza. / Ya no tiene ilusiones que ponerse. / Su fe la desinflaron de un plumazo, / y hoy anda con lo puesto, su esqueleto, / llevando un cacho e’nada bajo el brazo.”

Ein Stoßgebet bracht‘ ihn her, / in einer Ecke des Cafés saß er so, / sogar die Wut ward ihm gestohlen, / herumgestoßen, blieb er irgendwo. / Wie anders am Ende zahlt er doch./ Seine Haltung, unheimlich zahm,/ nach einem ganzen Leben im Joch / am Ende macht Hoffnung nicht fett. / Keine Illusion hält ihn mehr warm,/ heut‘ hat er an, was er hat, sein Skelett / der Glaube verflogen im Federstreich, / und ein Stück Nichts unter´m Arm.

‚‚El jubilado” (‚Der Rentner‘, Anm.d.Üs.)

Auch Roberto Díaz, ein produktiver Texter der 80er und 90er Jahre, ließ zusammen mit dem Sänger und Komponisten Reynaldo Martín ein kritisches Werk zurück: „A mi país“ (‚Meinem Land gewidmet‘, Anm.d.Üs.):

„País, se gasta el corazón / pidiéndote perdón / buscando tu raíz./ País, de bronca con razón,/ de timba y corrupción,/ de chantas que sufrís./ País, de pibes sin colchón,/ de guita que el ladrón/ se afana en tu nariz./ País, que premia al charlatán,/ y al que se gana el pan/ Lo tilda de infeliz.”

Heimat, verbrauchtes Herz / Abbitte leistend, / Deine Wurzeln, wo? / Heimat, Dein Leid wutentbrannt, / vor Glücksspiel, Korruption, / so schamloser Betrüger. / Heimat der heimatlosen Jungs, / Kohle, weggeschnappt vom Dieb,/ vor Deiner Nase./ Heimat, belohnt den Scharlatan, / und der sein rot verdient, / Unglücklicher wird genannt.

Wenn ich an unsere unmittelbare Vergangenheit denke, kommt mir Ezeiza (Kurzform für den internationalen Flughafen von Buenos Aires, Anm.d.Üs.) von Jorge ‘Alorsa’ Pandelucos in den Sinn, der das Auswanderungsphänomen vieler Argentinier beschreibt, aus der Zeit der Regierung Fernando de la Rúa’s:

„Te acompañan hasta Ezeiza, / arrastrando los bagayos, ¿adónde vas? / Con la facha reciclada, / ciudadanía cambiada, ¿adónde vas? / Navidades extranjeras / buscando en la billetera / la foto que más querés. / Viendo goles de argentina / a las 3 de la matina / por deportes CNN.”

Du wirst begleitet bis Ezeiza, / Dein Gepäck karrend, wohin geht’s? / Ein recyceltes Gesicht, andere / Staatsangehörigkeit ausgebuddelt, wohin geht’s? / Fremde Weihnachten, / Suche nach dem Lieblingsfoto im Portemonnaie. / Schaust‘ um 3Uhr morgens, / Fußballtore Argentiniens / Über CNN sports.

von ‚‚Alorsa”

Die Liste ist nicht unendlich. Einige Produktionen des 20.Jh. sind u.a.: „Noche fría” (‚Kalte Nacht’von Gardel und Razzano, „Al pie de la Santa Cruz” (‚Am Fuße des heiligen Kreuzes’) von Battistella und Delfino, „Si volviera Jesús” (‚Wenn Jesus zurückkehrte’) von Dante A. Linyera und Mora, „Gólgota” von Gorrindo und Biagi, „No te engañes” (‚Täusche dich nicht!‘) von Manzi und Lipesker, „Silencioso” (‚Leisetreter‘) von Expósito und Piazzolla), „Argentina primer Mundo” (‚Argentinien, Erste Welt‘) von Eladia Blázquez, „Julián de abajo” (‚Julian von unten‘) von Negro und Valdéz, „Vientos del ochenta” (‚Winde der 80er’) von Tavera und Juárez – ohne jene vergessen zu wollen: „Al mundo le falta un tornillo” (‚Der Welt fehlt eine Schraube‘) von Cadícamo und Aguilar, „Desencuentro” (‚Verpasst‘) von Castillo und Troilo, „¿Y a mí qué?” (‚Was schert’s mich?‘) von Castillo und Troilo, sowie noch eine ganze Reihe Tangos aus der Produktion von Enrique Santos Discépolo, wo hervorstechen: „Qué sapa señor”, „Yira Yira” (‚Es dreht sich und dreht sich‘), und „Cambalache” (‚Gerümpel‘), und Unvergessen, einer seiner Vorgänger mit sozialkritischer Intention, der bereits erwähnte Villoldo mit seinen „Matufias o el arte de vivir“ (‚Schmutzige Geschäfte oder die Kunst des Lebens‘) und „La suba de alquileres“ (‚Die Mieten steigen‘)*.

Villoldo, 1910

Ich weiß sehr gut, daß die Poesie oder jeglicher anderer mit dem, was wir Kunst nennen verbundener Aspekt nicht den Hunger nach primären Notwendigkeiten stillt, und daß die Phrase „ein halbes Brot und ein Buch“ romantisch klingen möchte; doch was wären wir, wenn wir uns die Einfühlsamkeit nehmen ließen? Auch sollte man die Kraft nicht unterschätzen des Liedgebrauchs, in diesem Fall der Tangos, die da und dort Synergien mit den kollektiven Nöten aufbauen und aus dem Bauch heraus ihre Unzufriedenheit, Wut und den Ruf nach Gerechtigkeit hinausschreien.

Dies kann hier nur eine erste Annäherung darstellen, es folgen weitere: politische Tangos dieses so schönen wie rabiaten 21. Jahrhunderts.

*in Klammern stehen die Anm.d.Üs.
Übersetzung von Dr. Stela Popescu-Böttger

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