Lieder zum Aufrühren
I – Ein bißchen Geschichte
Dies ist der erste Teil von vieren, die man mit dem Titel „politische Tangos“, „Protest oder aufrührerische Tangos“, überschreiben könnte. In meinem Buch „TANGO POST 2001” erklärte ich bereits, dass ich nicht an die Hypothese glaube, dass Tangos sich jemals gegen die Hegemonie der jeweils regierenden politischen Macht gewendet hätten. Ich glaube eher, mit den Worten Javier Campos‘: „…dass das Material politischer Tangos weitaus weniger ergiebig ausfällt als das Material unpolitischer Tangotexte – und etwas anderes zu behaupten, wäre Geschichtsklitterung und ein Zurechtrücken von Fakten, die wir gerne anders wahrgenommen hätten“.
Nichtdestotrotz finden sich als Konstante in den Tangos des 21.Jh. Texte, die die sozialen und menschlichen Konflikte unserer Gesellschaft thematisieren: Ungerechtigkeit, Gewalt, eine kontaminierte Stadt und Enteignung. Es verhält sich nicht so, daß Zeitzeugenberichte, Proteste oder Anklagen allein unserer Generation des 21.Jh. angehörten. Man erinnere sich an die Zeit der Aufstände und Streiks zur Jahrhundertwende des 19./20.Jh., wo der Geschichtsforscher Osvaldo Bayer fündig wurde und einen anonymen Tango aus dem Jahr 1901 ausgrub mit dem Titel „Guerra a la burguesía“ (‚Krieg der Bourgoisie‘, Anm.d.Üs.).
Ein scharfzüngiger Ángel Villoldo dichtete 1903 „Matufias o el arte de vivir” (‚Schmutzige Geschäfte oder die Kunst des Lebens‘, Anm.d.Üs.):
Ähnliches liest man bei den Anarchisten-Sängern, die ihre Beschwerden hinausrufen und ihren Kampf dem Rhythmus einer Milonga anpassen:
Argentinien heute
Wenn ich mich von dem sinkenden Schiff Argentiniens nicht retten kann, und da spreche ich von der Gegenwart, erkenne ich in einigen alten Tangos die Aktualität und Wiederkehr einer alarmierenden Vorhersage. Sofort kommt mir da ‚‚Pan” in den Sinn, (‚‚Brot“, Anm.d.Üs.) von Celedonio Flores und Eduardo Pereyra:
Ein anderer fast vergessener Tango ist ‚‚¿Y a mí qué? (‚Was schert’s mich?‘, Anm.d.Üs.), nicht zu verwechseln mit jenem von Aníbal Troilo und Cátulo Castillo, sondern der von Fernández Blanco y Juan Canaro:
Kritik an den Lebensbedingungen hart arbeitender Menschen liest man aus den Zeilen des „El jubilado“ (‚Der Rentner‘, Anm.d.Üs.) von Luis Alposta und Edmundo Rivero heraus:
Auch Roberto Díaz, ein produktiver Texter der 80er und 90er Jahre, ließ zusammen mit dem Sänger und Komponisten Reynaldo Martín ein kritisches Werk zurück: „A mi país“ (‚Meinem Land gewidmet‘, Anm.d.Üs.):
Wenn ich an unsere unmittelbare Vergangenheit denke, kommt mir „Ezeiza“ (Kurzform für den internationalen Flughafen von Buenos Aires, Anm.d.Üs.) von Jorge ‘Alorsa’ Pandelucos in den Sinn, der das Auswanderungsphänomen vieler Argentinier beschreibt, aus der Zeit der Regierung Fernando de la Rúa’s:
Die Liste ist nicht unendlich. Einige Produktionen des 20.Jh. sind u.a.: „Noche fría” (‚Kalte Nacht’von Gardel und Razzano, „Al pie de la Santa Cruz” (‚Am Fuße des heiligen Kreuzes’) von Battistella und Delfino, „Si volviera Jesús” (‚Wenn Jesus zurückkehrte’) von Dante A. Linyera und Mora, „Gólgota” von Gorrindo und Biagi, „No te engañes” (‚Täusche dich nicht!‘) von Manzi und Lipesker, „Silencioso” (‚Leisetreter‘) von Expósito und Piazzolla), „Argentina primer Mundo” (‚Argentinien, Erste Welt‘) von Eladia Blázquez, „Julián de abajo” (‚Julian von unten‘) von Negro und Valdéz, „Vientos del ochenta” (‚Winde der 80er’) von Tavera und Juárez – ohne jene vergessen zu wollen: „Al mundo le falta un tornillo” (‚Der Welt fehlt eine Schraube‘) von Cadícamo und Aguilar, „Desencuentro” (‚Verpasst‘) von Castillo und Troilo, „¿Y a mí qué?” (‚Was schert’s mich?‘) von Castillo und Troilo, sowie noch eine ganze Reihe Tangos aus der Produktion von Enrique Santos Discépolo, wo hervorstechen: „Qué sapa señor”, „Yira Yira” (‚Es dreht sich und dreht sich‘), und „Cambalache” (‚Gerümpel‘), und Unvergessen, einer seiner Vorgänger mit sozialkritischer Intention, der bereits erwähnte Villoldo mit seinen „Matufias o el arte de vivir“ (‚Schmutzige Geschäfte oder die Kunst des Lebens‘) und „La suba de alquileres“ (‚Die Mieten steigen‘)*.
Ich weiß sehr gut, daß die Poesie oder jeglicher anderer mit dem, was wir Kunst nennen verbundener Aspekt nicht den Hunger nach primären Notwendigkeiten stillt, und daß die Phrase „ein halbes Brot und ein Buch“ romantisch klingen möchte; doch was wären wir, wenn wir uns die Einfühlsamkeit nehmen ließen? Auch sollte man die Kraft nicht unterschätzen des Liedgebrauchs, in diesem Fall der Tangos, die da und dort Synergien mit den kollektiven Nöten aufbauen und aus dem Bauch heraus ihre Unzufriedenheit, Wut und den Ruf nach Gerechtigkeit hinausschreien.
Dies kann hier nur eine erste Annäherung darstellen, es folgen weitere: politische Tangos dieses so schönen wie rabiaten 21. Jahrhunderts.
*in Klammern stehen die Anm.d.Üs.
Übersetzung von Dr. Stela Popescu-Böttger