Wer Bandonegro heute in seiner Breite erlebt, hört zwei Seiten derselben Medaille: ein technisch brillantes Orquesta típico für den klassischen, tanzbaren Salon – und ein mutiges Ensemble, das den Geist von Astor Piazzolla weiterträgt, mit zeitgenössischer Energie versieht und weiterentwickelt. Diese Doppelbegabung ist kein Zufall, sondern Programm: Schon sehr früh stellten die Poznań¬er Musiker ihre Piazzolla-Kompetenz unter Beweis – und wurden zugleich zu einem Orchester, das die Codes der „Goldenen Epoche“ souverän musikalische umsetzt.
Der Weg dahin begann bemerkenswert früh. In den Anfangsjahren – noch als Teenager – gewann die Gruppe den internationalen Wettbewerb PIF Castelfidardo in Italien. Nur wenig später entstand ihr erstes Piazzolla-Album. Diese frühen Meriten sind mehr als Anekdoten: Sie markieren Bandonegros Grundhaltung, die Tradition ernst zu nehmen und zugleich den modernen Piazzolla-Sound als eigene Sprache zu pflegen.
Dass Kritiker Bandonegro heute attestieren, Piazzollas Erbe „weiterzuentwickeln“, ist gut belegt. So wird ihr jüngstes Studioalbum „TANUEVO“ (2025) als „wahre Revolution“ im Genre beschrieben – aufgenommen in Buenos Aires mit hochkarätigen Gästen wie Pipi Piazzolla und Lucio Balduini. Der Tenor: Bandonegro führe Piazzollas Linie fort, aber mit eigener Handschrift – energetisch, bewegend, fantasievoll mit elementen aus Jazz und minimalistischer Musik. Ähnlich würdigt Club del Disco die Band als Ensemble, das Piazzollas Vermächtnis „mit frischer, zeitgenössischer Perspektive“ fortsetzt.
Gleichzeitig sind Bandonegro auf Tanzflächen zuhause. Ihre Alben „Tanchestron“ (2017), „Tangostoria“ (2020) und „Color Aires“ (2022) arbeiten mit klassischem Repertoire von Tangos, Valses und Milongas in musikalisch stilsicheren, tanzbaren Arrangements. „Color Aires“ etwa versammelt traditionelle Stücke ergänzt um punktuelle Nuevo-Farben in einer Ästhetik, die TänzerInnen anspricht und DJs zum Bauen ganzer Tandas einlädt.
Zwei Abende, zwei Gesichter
Wie weit Bandonegro beide Welten mit höchster Qualität bedienen, zeigt eine Einladung, die es so selten gibt: Beim Tangofestival RheinRuhr (27.–29. März 2026, Witten) wird die Gruppe ein echtes Doppelkonzert bestreieten – am Freitag ein Neotango-Konzert im Neo-Areal, am Samstag ein klassisches Set im großen Ballsaal.
Dies positioniert die Band explizit als Inkarnation des Festiuval-Mottos „TRAD MEETS NEO“. Für das Publikum heißt das: zwei komplette, voneinander unabhängige Konzertabende, welche die Spannweite dieses zeitgenössischen Tango-Orchesters in großer Breite und Tiefe erlebbar machen.
Diskografie: Sechs Alben, zwei Pole – und viel Dazwischen
Bandonegros bisherige sechs Longplayer lassen sich trotz einiger Überschneidungen klar in zwei Stränge gliedern. Die Einordnung folgt Repertoire, Klangbild und erklärter Ästhetik aus verschiedenen Pressetexten und Rezensionen:
Traditioneller Tango, Musik für klassische Milongas
- Tanchestron (2017) – ein Katalog salon-erprobter Klassiker (u. a. „Quejas de bandoneón“, „Por una cabeza“), kompakt phrasiert, mit klarem Puls: ideale Basis für traditionelle Milongas.
- Tangostoria (2020) – Hommage an die Orquesta-Tradition (Troilo, Demare, Greco u. a.), mit großem Sinn für melodische Bögen und Tänzerfreundlichkeit.
- Color Aires (2022) – klassisches Programm (Tango/Val/ Milonga) in traditionellen Arrangements; punktuell Neothemen, insgesamt aber auf Tanzbarkeit und Klangkultur ausgerichtet.
Neotango / Piazzolla-Linie, Material für Neolongas
4) Tango Nuevo by Astor Piazzolla (2011) – ein frühes, dezidiertes Piazzolla-Album; setzt die kammermusikalische, rhythmisch verzahnte Schreibart des Meisters in heutiger Diktion um.
5) ¡Hola Astor! (2019) – Piazzolla trifft Eigenkompositionen; Kooperation mit Jazzmusikern (Gitarre/Drums) schafft jene frische, rock-jazzige Kante, die Kritiker als „revolutionär“ verorten.
6) Tanuevo (2025) – Originalmaterial, welches die Piazzolla-Ästhetik zeitgenössisch weiterdenkt: jazzige Harmonien, minimalistische Texturen, viel Drive – eine „Revolution im Genre“.
Diese Kategorisierung erklärt, warum Bandonegro heute zwei klar konturierte Programme anbieten kann – eines, das die klassische Ronda glücklich macht, und eines, das den Konzertsaal füllt, ohne die Tanzbarkeit zu verlieren.
Warum sie beides können
Zum einen verfügt das Quartett über die nötige „Handschrift“: Strenger Compás, Finesse im klassischen Repertoire; zugleich Mut zur Klangfarbe, zur perkussiven Artikulation und zur improvisatorischen Geste im Nuevo. Wer „Quejas de bandoneón“ von Tanchestron neben „Zita“ oder „Fuga y Misterio“ aus ¡Hola Astor! legt, hört dieselben Musiker – aber zwei unterschiedliche Haltungen zum Material.
Zum anderen ist Bandonegro seit Jahren international präsent in Philharmonien, Theatern, großen Festivals und bei vielen Milongs. Die Gruppe gilt inzwischen als „world-class tango orchestra“, das Tradition, Nuevo und eigene Kompositionen verbindet. Diese Außenperspektive deckt sich mit dem Höreindruck der aktuellen Alben.
Blick nach vorn
Mit „Tanuevo“ haben Bandonegro ihr Piazzolla-Erbe klar auf die Zukunft ausgerichtet, ohne dabei ihren Ruf als „Orquesta para bailar“ zu verspielen. Genau dieser Spannungsbogen wird Ende März 2026 in Witten gefeiert: ein Wochenende, das demonstriert, wie lebendig die Einheit des Tango heute sein kann – wenn ein Ensemble beide Sprachen fließend beherrscht.
Bandonegro ist kein Entweder-Oder-Projekt. Es ist eine Band, die den Tango in seiner ganzen Breite ernst nimmt – vom klaren Salon-Puls bis zur konzertanten Differenziertheit des Nuevo. Ihre sechs Alben formen EINE TANGOWELT in der Enthusiasten des traditionellen Tangos wie auch des zeitgenössischen, modernen Tangos gleichermaßen ihren Weg finden.
