Alfredo Tape Rubin. Vater der aktuellen Tangoszene

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Alfredo Tape Rubin - Foto: Carina Stanzione
Foto: Carina Stanzione

El Tape (Identikit)

Che, Du da, Leute, Welt, Ernst des Lebens… Ich bin hier, um vom Tape zu reden, und höre mir gut zu! Er wird Anlaß zu Diskussionen generieren unter den zukünftigen Generationen, wenn sie die ‚große Autopsie‘ vornehmen, um herauszufinden, woraus ihre Tangos bestehen. Sein Werk ist nicht das eines Fallschirmspringers, er weiß was er spielt, wenn er spielt. Solltest Du ihn noch nicht kennen, hier fege ich Dir ein paar Einzelheiten zusammen:

  • Name: Alfredo Rubín
  • Genannt: Tape
  • Sein Quartier: das CAFF (Club Atlético Fernández Fierro)
  • Stimmlage: weinrot, Mischung aus Anden-Spatz und Zeitungsverkäufer
  • Studien: langwährende Auseinandersetzungen mit der Musik von Yupanqui bis Dylan, von Gardel bis Charles Mingus, von Chopin bis Zitarrosa, von Piazzolla bis Callas.
  • Instrument: Das Holz mit den sechs Saiten
  • Augenfarbe: wie der Himmel über Balvanera um fünzehn Uhr zehn.
  • Veröffentlichte Platten: Hemisferio (2000) mit dem Quartett „Almagro”; Reina noche (2004), Lujo total (2009) mit den „Guitarras de Puente Alsina”; Cambiando cordaje (2018) mit dem Gitarrentrio Heler-Lacruz-Nikitoff.
  • Besondere Kennzeichen: gefunden zu haben, was César Vallejo (peruanischer Dichter der Avantgarde, Anfang 19.Jh., Anm.d.Üs.) den „Ton” genannt hat, das heißt, eine eigene Sprache.
  • Personenstand: nachtaktiv
Alfredo Tape Rubin - Foto: Carina Stanzione
Foto: Carina Stanzione

Seine Lieder, seine Suche


Wir möchten drei seiner Lieder vorstellen: Calle, Bluses de Boedo und Milonguética, um einen Hauch, eine Farbe, ein Parfum seines Liedwerkes zu vermitteln. Wenn Du Lust auf mehr bekommst, tauche ein in seine Platten. Du wirst ihn auf den Musikseiten dieses merkwürdigen Quartiers namens Internet finden.

Calle


Ungeachtet der großen universellen Themen – Liebe, Vergänglichkeit, Tod – und im Klaren darüber, daß jedes Lied ein politischer Akt ist, schlägt Alfredo ‘Tape’ Rubín eine besondere Koloratur des Tangos an: er geht auf die Jagd in der hungrigen, sabbernden, sich windenden Stadt, in der die giftigen Abwasser vergangener Regierungen und Militärgewalt fließen; jener Hunger, der die Hände suchend in den Abfall treibt; wo verirrte Kugeln und ein anderes Gesicht der Einsamkeit das tägliche Brot ausmachen.

Sein Tango Calle schreibt sich ein in den Orbit des Spinetta-Liedes Por, auf dessen Platte Artaud. Worte, die wie Ziegelsteine sich zu einem größeren Block aufbauen. Der Beginn des Liedes ist abstoßend: die Stimmen von Videla, Isabelita, Neustadt und Muñoz blenden, verwirren, ekeln. Der Autor erklärt seine Küche: „Das sind die Gespenster der Vermissten, die wiederkehren und uns an den damaligen Diskurs erinnern, diese demente von den Medien und der öffentlichen Meinung begradigte Straße. Auch musikalisch eine Herausforderung: einen Text zu verfassen, der aus zweisilbigen Wörtern besteht, etwas, das wir nie zuvor im Tango gemacht haben. Das Durchmischen der Bilder weist auf einen Albtraum ohne Logik oder mit fremder Logik hin – alles durcheinander: die Malvinas, die Weltmeisterschaft, das Kino, das hinter dem Regime stehende Fernsehen, der Tod, der Zynismus, die Mütter, die Folter.“

Calle (tango) Pieroni- Rubín.
Alfredo Rubín und “Las Guitarras de Puente Alsina” (2009)

Bluses de Boedo

‚Bluesifizierung’ eines Tangos? ‚Tangofizierung‘ eines Blues? Alles ist möglich, insbesondere wenn der Sänger und Komponist seine Hand im Spiel hat. In den 90er Jahren schien dies unmöglich und auch noch zu Beginn des 21.Jahrhunderts. Achtung: ich habe Ángel Villoldo oder Eladia Blázquez nicht vergessen – zwischen 1900 und 1965 sind das nur 2 Beispiele! Über Bluses de Boedo sagte er: „Dieses Thema wurde wie ein Blues geboren, sagen wir, und dann angepasst an das Genre; obgleich ich es nie gerne Tango genannt habe, sondern ‚Tangoartefakt‘. Melodisch enthält die Musik nicht die tangotypischen Wendungen. Es geht um den Abschied einer Randfigur von seinen Weggefährten, und da werden Worte und Kulturen sowohl in der Melodie als auch im Text miteinander vermengt.“

Ich erlaube mir dieses Paradoxon: in den Texten von Tape Rubín findet man scheinbar wenig von jener als tangotypisch bezeichneten „Liedpoesie“. Er gehört nicht zu der lyrischen Welt jener Schattenstimmen oder der Zöpfe in Farben des bitteren Mate, auch fehlen seiner Harmonie und melodischen Linie das Geheimnisvolle. Was geschieht jedoch im Dialog zwischen Text und Melodie? Es verbrennt all unsere Rollen. Hier steigt die seltene Schönheit des „Lieds“ hervor, jenseits der poetischen Wendung und der großartigen Melodie. Rubíns Texte und Melodien umschlängeln sich, suchen sich und generieren in der Vereinigung Interaktionen, vor denen man nur den Hut ziehen kann.

In einer frühen Version des Orquesta Típica Fernández Fierro – welches in jenen Jahren immer noch die Spuren eines Osvaldo Pugliese trug – mit 340 Volt mehr allerdings, hole ich Dir Bluses de Boedo hervor:

Bluses de Boedo (Artefacto tanguero) Rubín. Chino Laborde und das Orquesta Típica Fernández Fierro (2009)

Milonguética

Violeta Parra, Chico Buarque, Joan Manuel Serrat, um nur einige zu nennen, haben in ihren Songs starke Akzente gesetzt. Der Tango hat das nicht gewagt, bis daß Tape zugeschlagen hat: „Magisch aber despotisch / toxisch jedoch romantisch / vielseitig und monoton / plastisch aber fantastisch… Diese Haßliebeserklärung an die große Stadt, die beliebig sein könnte, doch ist es hier Buenos Aires in ihren gegensätzlichen Aspekten: schön und gleichzeitig entstellt. Musikalisch arbeitet die Melodie in einer einzigen Tonlage, Klima und Rhythmus variierend, in einer Reise durch die städtische und ländliche Milonga, den Rock, die Murga“, sagt ‚Tape‘ Rubín

Milonguética (Milonga) Rubín. Rubín und das Trio Heler-Lacruz-Nikitoff

Letztendlich ist Alfredo ‚Tape’ Rubín ein Autor der harten Worte, ohne jedoch die schönen Pfade der Metapher und der Melodie aus dem Blickfeld zu verlieren. Er arbeitet nicht mit den „neuesten Nachrichten“ – das ist leeres Geschwätz, Wirrwarr. Die guten Lieder werden aus Sprache gemacht, Du weißt doch, wenn das Lied nicht wie ein Schloss gebaut wurde, fällt es auch ohne Wind zusammen. Hoch leben die Tangos vom Tape! Hoch lebe der gute Ausdruck des aktuellen Tangos!

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