Proyecto Pichuco im Berliner Tangoloft: Unveröffentlichte Troilo-Schätze und ein eindrucksvoller Abschied vom Kühlhaus

Mona Isabelle kündigt das Gran Orquesta Proyecto Pichuco im Tangoloft an (Foto: Tango21.info)

Sternstunden der Tangocommunity in Berlin


Eindrucksvoller Abschied des Tangolofts vom Kühlhaus mit dem „Proyecto Pichuco“


Das Tangoloft in Berlin ist berühmt für seine warme Atmosphäre, die Sofas, das angenehme Licht, die liebevolle Dekoration und für den aufmerksamen Service. Die Inneneinrichtung atmet etwas die Zeit der 20er und 30er Jahre des letzten Jahrhunderts und die Tangocommunity geht hier deutlich gepflegter an den Start als in vielen anderen Milongas.

Mona Isabelle, die Gastgeberin sagt: „Im Tangoloft soll der Tango leben“ und wer es mit den Milongas in Argentinien vergleichen will, der wird das Tangoloft weit oben einordnen und eher an den berühmten Club Marabu denken als an die vielen Milongas, die sehr oft nur durch die Musik und die Tänzer eine angenehme Atmosphäre entwickeln. Doch nun ist im Kühlhaus Schluss. „Wir wollen uns mit einem besonderen Event verabschieden, welches den Tango und einen seiner größten Künstler feiert“, so Mona Isabelle.

Musikalische Sternstunde: das Proyecto Pichuco


Entsprechend kam es zu einer Sternstunde der Tangomusik. Der Abend war ganz dem unbekannten bzw. vergessenen Werk von Anibal Troilo gewidmet.

Troilo hat von 1937 bis 1975 ein eigenes Orchester geführt, welches zu den großen vier Orchestern des Tango zählt. Troilo selbst galt als der Bandoneonspieler schlechthin in der Hochzeit des Tangos („el bandoneon mayor de Buenos Aires“). Mit seinem „singenden“ Bandoneon und ganz auf die Tänzer ausgerichteten Arrangements brachte „Pichuco“, so der Spitzname von Troilo, jede Milonga gefühlvoll in Schwung.

Sein Orchester hat ständig Auftritte gehabt und ungezählt viele Tangos gespielt. Etwa 500 Tangos seines Orquestas sind bei Schallplattenfirmen aufgenommen worden und dadurch dokumentiert, aber es waren viel mehr, die live gespielt wurden. Darüber hinaus gibt es auch einige, die als Arrangement vorlagen und noch nicht gespielt worden sind. Um diese vergessenen oder unbekannten Troilo-Tangos ging es.

Michael Dolak
Michael Dolak, organisatorischer und musikalischer Kopf des Proyecto Pichuco (Foto: Hans-Martin Hallier)

Michael Dolak, Musiker, Lehrer, und Bandoneonista u.a. beim Cuarteto Rotterdam, hat sich eingehend mit den von Troilo hinterlassenen Noten beschäftigen können. Er arbeitete sich durch einen Berg von Partituren, Fragmenten und Notizen und fand eine Menge Stücke, die heute unbekannt sind, weil sie nicht auf Schallplatte aufgenommen wurden. Aus heutiger Sicht ist das ein ungehobener Schatz, den es nicht nur bei Troilo gibt, sondern bei allen Musikern, die in den 20er bis 50er Jahren des letzten Jahrhunderts vor allem live gespielt haben. Mit Schallplattenaufnahmen wurde die Musik erst nach und nach mehr dokumentiert und verbreitet.

Schatz gehoben

Michael bereitete 28 der nicht aufgenommenen Partituren auf, um diesen Teil des Werks von Troilo exemplarisch wiederzubeleben. Die meisten Stücke sind nicht unbekannt, weil sie von anderen Orchestern auf Schallplatten existieren. Jedes der musikhistorisch wichtigen Orchester hatte jedoch seinen Stil und spezifischen Sound, sodass ihre Fassungen unterschiedlich sind.

„Lo que Vendra“ beispielsweise hört sich bei Piazzolla sehr anders an als bei der von Michael Dolak neu gefundenen Version von Troilo. Troilo ging es darum, seine Musik ultratanzbar zu machen, Piazzolla hingegen wollte auch seine Kunst präsentieren und die Tanzbarkeit war häufig nicht sein primäres Ziel. Das ist bei „Lo que Vendra“ besonders interessant, denn dieser Tango ist von Piazzolla selbst komponiert und sowohl für Troilo von ihm arrangiert wie auch -bemerkenswert anders – für sein eigenes Nuevo Octeto.

Ein anderer, interessanter Fall ist das ausgegrabene Arrangement des berühmten Stücks Nostalgias, welches Piazzolla für Troilo gefertigt hatte. Michael Dolak fand es unberührt, ohne Anmerkungen oder Korrekturen von Troilo vor, sodass er der Überzeugung ist, dass dieses Arrangement vermutlich nie von Troilo gespielt wurde.

Bei den neu ins Licht geholten Stücken gibt es aber auch Themen, die lt. Michael Dolak nirgendwo zu finden sind und den Kosmos der gespielten Tangomusik erweitern. Dazu zählt „Recordando“, eine Milonga von Troilo/Manzi.

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Das Gran Orquesta Proyecto Pichuco in Aktion (Video: Tango21.info)

Voller, differenzierter Sound mit Gran Orquesta

Wer kümmert sich um vergessene Tangos? Die Arbeit von Michael Dolak ist so gesehen eine Pionierarbeit, ein Meilenstein. Das verdient einen großen Auftritt und gerade die ausgefeilten Arrangements von und für Troilo benötigen ein großes Orchester, um seinem Sound nahezukommen. So suchte Michael Partner, die sich für dieses Projekt begeistern und ihm den Klangkörper geben, der diesen großen Auftritt ermöglicht.

Mit der französischen Pianistin Chloe Pfeiffer fand er eine große Unterstützung und das musikalische Netzwerk der beiden ermöglichte das 14-köpfige Gran Orquesta „Proyecto Pichuco“ mit vier Bandoneones, vier Geigen, Viola, Violoncello, Bass, Klavier und zwei Sängern. Die 14 Musiker kommen aus 5 Ländern. Das unterstreicht die Bedeutung des Projekts. „Das Proyecto Pichuco hat einen großen und internationalen Rahmen“, so Dolak, „das wird ihm gerecht und das benötigt das Projekt auch, um weiter zu wirken.“

Hinreißendes Debut

Die Erstaufführung und auch die kurze aber intensive Probenarbeit wurden vom Tangoloft ermöglicht und dort passte es auch atmosphärisch und technisch perfekt hin. Die reichhaltige Orchestrierung des „Proyecto Pichuco“ konnte die dynamische Bandbreite und emotionale Tiefe des typischen Troilo – Sounds wiederbeleben. Eine zentrale Rolle spielten dabei die Passagen mit den Bandoneones, die im

Pianistin Chloe Pfeiffer (Foto: Hans-Martin Hallier)

Zusammenspiel mit den Saiteninstrumenten die Herzen der Tänzer öffnen und ihre Körper im Tanz verschmelzen lassen. Dazu die exakt hingetupften Einsprengsel des Pianos jenseits seiner rhythmischen Funktion…hinreißend, großartig, bewegend.

Troilo-Tieftauchen

Als I-Punkt sind die beiden Sänger zu nennen. Troilo war für seine intensive Arbeit mit Sängern bekannt, die dem Tango fast immer eine eigene, zusätzliche Faszination ermöglichen. Beim „Proyecto Pichuco“ waren mit Martin Troncozo und Brian Chambouleyron zwei Sänger unterschiedlicher Tonlagen eingebunden, die insbesondere im Duett zu Hochform aufliefen und die Musik noch präsenter machten.

Etwa zwei Stunden gab es Troilo Musik live von einem großartigen Gran Orquesta. Es war ein „deep dive“ in die Troilo Musik, aber ohne seine Hits wie „Sur“, „Garua“ oder „Barrio de Tango“. Das Gefühl einer tiefen Vertrautheit mit Troilo Musik konnte sich entwickeln, ohne die Stücke in dieser Art schon 100 oder 1000 mal gehört zu haben. Welche Veranstaltung hat das zu bieten? Großer Applaus!

Die Musiker
Bandoneones: Michael Dolak (DE), Fabrizio Colombo (ARG), Simone Tolomeo (IT), Maxime Point (FR)
Geigen: Susanne Cordula Welsch (DE), Chloé Bousquet (FR), Cécile Mons (FR), Mehdi Al-Tinaoui (FR)
Viola: Romain de Mesmay (FR); Violoncello: Belen Sánchez Pérez (ES)
Piano: Chloé Pfeiffer (FR); Bass: Facundo Leónidas di Pietro (ARG)
Gesang: Martin Troncozo (ARG), Brian Chambouleyron (FR).

Martin Troncozo und Brian Chambouleyron im Duett (Foto: Hans-Martin Hallier)

Wie weiter?

Wir fragten Michael Dolak wie es weitergeht. Was ist die Zukunft des Projekts. Unklar. Geplant waren drei Auftritte. Sollen die ausgegrabenen Arrangements dann wieder in Vergessenheit geraten? Werden sie von kleineren Formationen gespielt werden? Wird es eine CD geben? „Alles noch nicht klar“, sagt Michael Dolak. Doch alles auch irgendwie im Fluss. Für die Musiker war es ein tolles Erlebnis, gerade auch untereinander. Alle hatten Freude und Spaß und fühlen sich wohl, einen Beitrag leisten zu können. Das kann nicht das Ende sein, eher ein Anfang. Bemühungen um Crowdfunding und neue Auftritte sind im Gang, aber es ist heutzutage sehr schwer 14 Musiker zeitlich, menschlich und ökonomisch zusammenzubringen. Wir müssen hoffen oder uns beteiligen.

Neuer Ort für das Tangoloft in Kreuzberg

Anders beim Tangoloft. Es zieht in seinen inzwischen fast 25 Jahren zum vierten Mal um. Kurioser Fakt am Rande: vor jedem Umzug spielten Michael Dolak und auch die Geigerin Cordula Welsch vom Cuarteto Rotterdam das letzte Mal in der alten Location.


„Michael ist mein Glücksbringer“, sagte dazu Mona Isabelle und fuhr voller Begeisterung fort: „Jetzt konnten wir einen langfristigen Vertrag abschließen, sodass wir mit ganz anderer Sicherheit und Energie an die Einrichtung unseres neuen Veranstaltungsortes gehen können und dort das Tangoloft wieder zum Blühen bringen werden.“ Der Ort ist für die Tangoszene nicht unbekannt, denn hier war die Tanzschule Bebop beheimatet, die auch argentinischen Tango anbot.


Seit Anfang August ist Mona Isabelle mit ihrem Team hier bereits aktiv. Am 14. September gibt es ein großes Einweihungsfest. 500 qm mit großer Außenterasse werden zur Verfügung stehen. Eindrucksvolle Veranstaltungen des Tangolofts werden weiter Höhepunkte in der Berliner Tangoszene und darüber hinaus sein.

(Foto:Tangoloft)

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