Resumé: 1. Festival Elektrotango – Gegenwart und Zukunft


Der Tango in Argentinien ist voller Widersprüche. Er ist die ursprünglichste kulturelle Ausformung des Landes, jedoch keineswegs die populärste. Es ist der Ort, wo die meisten neuen Tangos komponiert werden, jedoch nicht der Ort, wo diese getanzt werden. Das Land erlebte die Geburt und das Funkeln des Elektrotangos, bis vor einem Monat hatte es jedoch nie ein Festival gegeben, das sich speziell dieser Strömung gewidmet hätte.

Daher ist leicht zu verstehen, dass die Organisatoren des 1° Festival Electrotango de Buenos Aires (4. – 7. Februar 2022) von einem „historischen“ Event sprachen. Es ist auch nachzuvollziehen, dass viele darin eine Erfüllung und Leistung sahen. Da war nicht nur das Gefühl – wie bei anderen Veranstaltungen dieser Art – ein Sandkorn zur Konstruktion des neuen Tangos dieses Jahrhunderts hinzugefügt zu haben, sondern da ging es auch um eine Abrechnung mit sich selbst und dem Elektrotango.

Die Zeit wird uns sagen, ob der Februar dieses Jahres ein Höhepunkt des Jahres war. Auf jeden Fall war es eine Entdeckung.

Einerseits hat das Festival die Wertigkeit einer Unterart des Genres gefestigt, das man schon als passé eingestuft hatte. Die Musiker befinden sich in einem tiefen Stadium der Reife und haben gezeigt, dass sie in den letzten 25 Jahren, nämlich seit Beginn der Bewegung, ein Gleichgewicht zwischen dem elektronischen und traditionellen Tango gefunden haben. Das Elektronische tritt nicht mehr disruptiv oder wie eine modische Erscheinung auf, sondern in einer Textur schaffenden Art und Weise, die unsere Gegenwart widerspiegelt.

Tangorra (Foto: Conejo Verde Fotografia)

Zentrale Figuren dieser Bewegung sind Tanghetto, Narcotango oder Otros Aires bis hin zu neuen Exponenten wie D-Mol, Kaia Za San oder aufsteigende Gruppen wie zum Beispiel Tangorra. Die musikalische Gegenwart des Electrotangos ist solide.

Im Allgemeinen wird davon ausgegangen, daß der Tanz sich nicht gleichermaßen weiterentwickelt hat wie die Musik des zeitgenössischen Tangos. Das geschieht oft, weil nur die Vorstellungen der traditionellen Räume angeschaut werden. Das Festival hat jedoch eine gute Projektionsfläche geboten, auf der viele Menschen aus unterschiedlichen Blickwinkeln heraus auch dem Tanz neue Elemente hinzufügen. Die Tänzer Hugo Mastrolorenzo und Agustina Vignau – beide Tangoweltmeister – haben zum Beispiel eine besonders interessante Performance vorgeführt. Mastrolorenzo hat als Autor mehrerer Bücher die Zukunft des Tanzes analysiert und einen Bühnentango geschaffen, der mehr dazu gedacht ist, Ideen zu entwickeln als athletische Kunstfertigkeit zu präsentieren.

Es gab gleichsam auch andere Formen künstlerischer Suche, wie zum Beispiel die Fusion des Tangos mit der Biodanza oder der exotische Tango von Lía Martínez – eine der Organisatorinnen des Festivals. Alternative Tanzvorstellungen zeigten die Leute vom Contact-Tango, die in Buenos Aires schon eine ständig wachsende Zahl Anhänger gefunden haben und ihre Legitimität auf den Milongas verbreitern.

Musiker, Tänzer und DJs des 1. Festival Electrotango Buenos Aires (Foto: @joannysandoval)

Unter den DJs gab es eine Vielzahl von Angeboten. Der Tango Siglo XXI hat – bisher wenigstens – noch keinen festen Diskurs entwickelt, wie er sich musikalisch zeigen sollte. Ein DJ traditioneller Tangos „muss“ zweifellos einige bestimmte Orchester auflegen. Solche Konzepte gibt es bei nicht-traditionellen Milongas noch nicht. Versionen klassischer Tangos mit anderen Einflüssen? Ganz neue Tangos? Nur Electrotangos? Non-Tangos? All diese Möglichkeiten sind anlässlich dieses Festivals zusammengeflossen. Alle erfreuten sich des Zuspruchs und wurden auch getanzt – eine geistige Offenheit, die man bei anderen Gelegenheiten nicht immer findet.

Tatsächlich wird es nicht der Electrotango sein, der den traditionellen Tango ersetzen wird, und auch diese alternativen Tanzformen werden nicht den Tango der Zukunft bestimmen. Beide Elemente werden jedoch mit Sicherheit im Laufe der Jahre die akzeptierten Richtlinien des Genres infiltrieren und sowohl Musiker als auch Tänzer jeglicher Art bereichern und das neu konfigurieren, was wir unter Tango verstehen.

Willkommen in der Zukunft!

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Einen ausführlichen Artikel über das Festival gibt es in der Tangodanza 2/2022:
„Familientreffen der Szene – 1. Festival Electrotango Buenos Aires“, von Geert Böttger
Bestellbar hier: https://www.tangodanza.de/product_info.php?products_id=1682&cPath=1

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