Politische Tangos II

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Tangos Politicos - Dictadura - Ex Olimpo
Foto: Ex Olimpo

Lieder zum Aufrühren


Matías Mauricio

II – Tango und Diktatur

Eine Angewohnheit der Argentinier ist es, den Personen Schilder umzuhängen, sie einzuordnen und zu beurteilen; je nachdem wird der erfolglose Sportler „kalte Brust“, ein bescheidener Arbeiter auf einer Demo als „Chorizo-Brötchen“ bezeichnet (es wird kolportiert, daß mit Nahrungsmitteln die Teilnahme an Demos ‚gefördert‘ wird, Anm.d.Üs.). Über seine lange Geschichte hinweg wurde auch der Tango in ähnliche Korsagen gezwängt, für Viele ist der Tango „rückwärtsgerichtet“, „machistisch“ oder „riecht nach Mottenpulver“– wobei Einiges davon nicht ohne Wahrheitsgehalte sei. Es wäre jedoch ein Fehler dies zu generalisieren. Eine der schmerzhaftesten Verurteilungen ist es, den Tango als „fascho“ zu erklären und somit die Tangueras und Tangueros zu „Faschos“. Dem gibt es nichts Besseres als die Verse von Humberto Costantini in „Adversativa“ entgegenzusetzen.

„El tipo
convidaba Imparciales,
solía escuchar a Troilo con unción,
y cantaba “La loca de amor”
bajo la ducha.
No obstante
era un hijo de puta.
Moraleja:
ser porteño cien por cien
no es ninguna garantía;
hay quien cuelga la foto de Gardel
en el Ford Falcon.”

Der Typ bot
‘Imparciales’ Zigaretten an,
hört‘ sich gesalbt den Troilo an,
und sang „La loca del amor”
unter der Dusche.
Trotzdem,
er war ein Hurensohn.
Und die Moral:
Zu hundert Prozent ‚Porteño‘ sein,
ist keine Garantie,
es gibt welche, die das Foto von Gardel
im Ford Falcon hängen

Ford Falcón

(Der Ford Falcon war ein Schreckens-Symbol der Diktatur, wenn er vorfuhr, wurden Personen darin abtransportiert, Anm.d.Üs.)

Auf der Basis von Costantinis Text möchte ich den Faden der Ariadne weiterspinnen und an eine Polemik erinnern, die 2016 im Rahmen des Radio Tangoprogramms Fractura Expuesta (‚Offener Bruch‘, Anm.d.Üs.) entstanden ist. Aufhänger waren die Fragen: „Tango und Diktatur, eine notwendige Debatte?“.

Dies erlaubt uns die problematischen Seiten der etwas diffusen Bezeichnungen „sozialer“, „kritischer“, „engagierter“ oder „Protest“-Tangos zu beleuchten. In der genannten Debatte hat der Tango-Texter Alejandro Szwarcman die moralischen Beweggründe des Genres infrage gestellt: „Was für eine Pflicht hätte der Tango, über die anderen Musikgenres hinaus, denen solche Fragen nach den Themenkreisen Diktatur, Unterdrückung, Verschwundene nicht gestellt werden?“ „Bedeutet es, daß große Themen auch zu großartigen Liedern gereichen?“ Ich erwähne Szwarcman, weil er der erste Tango-Texter war, der sich an die unmittelbare Vergangenheit herangewagt hatte: die grausame bürgerlich-militärische Diktatur in Argentinien vom 24.3.76 bis 30.10.83. Ich glaube sagen zu können, daß durch den Schmerz und die eigene Dunkelheit von Themen über Gefangene-Verschwundene, Entführungen, Ermordungen, entrissene Kinder, die kreative Geburt des Tangos „Pompeya no olvida“ (‚Pompeya‘ – Stadtviertel in BA – ‚vergißt nicht‘, Anm.d.Üs.) als lichtvolle und befreiende Geste für immer in der Erinnerung bleibt. Die Musik wurde von Javier González komponiert.

Foto: Agencia Telam
Foto: Agencia Telam


„Pompeya no olvida“


Vor einigen Jahren bat ich Szwarcman um einige Erläuterungen zur Schaffensphase dieses Tangos, und er erklärte dazu: „Selbst wenn dieser Tango erst Mitte der 90er Jahre entstanden ist, hat der Kontext und die Idee bereits in meiner Jugend Form angenommen, während der Militärdiktatur, vielleicht 1982. Als der Text entstand, irrte ich durch die Gegend von Parque Patricios im Viertel Pompeya; eine tatsächliche Begebenheit hat mich zu den ersten zwei Strophen inspiriert – ich erinnere, sie im Schatten eines alten Hauses notiert zu haben – und beim Sichten der Notizen, da war es wieder: das Viertel, die Straßenecke, das Kopfsteinpflaster.„

„Abril se quedó suspendido en la siesta
las horas no fluyen, ni quieren morir,
un sol de aluminio remeda la cresta
del gris caserón de la calle Cachí.
Las mismas veredas de tarde me cuentan
historias perdidas flotando en abril
y vuelvo al portón de los años setenta
vestido de asombro, con sueños de jean.”

Der April schwebte in der Siesta,
Stunden, die nicht flossen, nicht starben,
Aluminiumsonne, in die Cachí-Straße verirrt
dem grauen Haus einen Kamm aufs Dach parodiert.
Gleiche Gehwege seit jeher erzählen mir
verlorene Geschichten schwebend im April,
wieder steh’ ich vor dem Tor der Siebziger,
hab‘ an, das Erstaunen und Träume in Jeans.

Literarisch gesehen fließt das Thema ohne Stolpersteine dahin. Der Erzähler taucht ein in das aufgelöste Raum-Zeitgefühl der Siesta. Mitten in einer Epoche des Grauens erstrahlt die multiple Wahrnehmung einer Schönheit und Ästhetik, die sich in der „Aluminiumsonne“ oder den „Träume(n) in Jeans“ wiederfindet.

Im Refrain jedoch erklärt sich das eigentliche Sujet und trifft den Ton. Der Autor erinnert sich: „Der zufällige Dialog zweier älterer Männer, die in Erinnerungen gemeinsamer Vergangenheit schwelgten, verlieh mir die Eingebung, die Geschichte einer Erinnerung zu schreiben, und ganz automatisch tauchten da die vielen Fehlversuche auf, in einer Tangosprache die Jahre zu vermitteln, die ich während der Diktatur erlebte.“

„Pompeya no olvida, que allá en Famatina
vivía una piba carita de anís,
amor de rayuela, perfume de esquina
hoy la andan buscando, también era abril.
Quién sabe, tal vez ella siga soñando,
y ya no recuerde la calle Cachí,
al menos que sepa que la anda buscando,
desde hace ya tanto, su abuela Beatriz.”

Pompeya nie vergißt, daß dort in Famatina
Ein Mädel lebte, Gesichtchen wie Anis,
mit Liebe zu ‚Himmel und Hölle‘, dem Duft der Straße,
heut wird sie gesucht, im April war es.
Wer weiß, wo sie weiterträumen mag,
vergessen der Cachí-Straße, dem Tag
unvergessen doch wird sie gesucht,
unendlich, von Großmutter Beatriz.

Keine weitere Analyse, ich tue dies bewusst, damit Du selbst hineinhörst, entdeckst und vielleicht forschst. Hier nisten die zwei geheimnisvollsten Zeilen des Liedes:

„ (…) un torpe camión se sacude en la cuesta
y escapa la sombra de aquel chiquilín.”

(…) schwer rüttelt ein Laster den Hang hinan,
verblassend den Schatten des Chiquilín.

Szwarcman hat nicht nur poetisch, sondern auch klanglich etwas Besonderes geschaffen. 20 Jahre nach dem Erscheinen von „ Pompeya no olvida” muss der Text immer noch als Markstein verstanden werden, der ein vorher und nachher der Letristik des Genres anzeigt.

Interpretin: Patricia Barone

Spannungen


Die Debatte um das soziale und politische Engagement des Künstlers in seinem Werk ist komplex und oft widersprüchlich. Soll man tatsächlich dem deutschen Dichter Friedrich Hölderlin folgen, der fragte: „Warum Dichter in dürftiger Zeit?“, wie auch dem Franzosen Gustave Flaubert, der erklärte: „Die Kunst grad wie der Gott der Juden ernährt sich von Holokausta.“ Die Fülle der Argumente und Positionierungen weist auf die Bedeutung dieser immer gegenwärtig bleibenden Debatte hin und erlaubt uns, die Beziehungen zwischen Kultur und Gesellschaft weiter zu diskutieren – intellektuelle Tätigkeit, Sensibilität, zu jeder Zeit in jedem Raum.

Wenn Dich das Thema interessiert, höre doch hinein in die „Milonga de los Arroyos“ von Rosales und Saraceni, „Calle“ von Rubín und Pieroni, „Tango para encontrarte“ (‚Tango, um Dich zu finden‘, Anm.d.Üs.) von Pizzo und Bertero oder „Soy“ von Bublick, der im Jahr 2004 den ersten Preis gewann im von den Großmüttern der Plaza de Mayo organisierten Wettbewerb „Tango por la identidad” (‚Tango als Identität‘, Anm.d.Üs.),

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