Matías Mauricio: Die neue Poesie des Tango nach 2001

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Matías Mauricio (Foto: Leandro Teysseire)
Matias Mauricio. Foto: Leandro Teysseire

Zum Buch von Matìas Mauricio:  „Tango Post 2001: ” Sozialer Aufbruch und die neue Lyrik“ 
Die klassischen Tango-Lyriker sind schon ‚rauf und runter‘ analysiert worden, doch bereits der Titel des hier vorgestellten Buches zeigt die Intention des Autors, sich mit einer neuen anspruchsvollen Aufgabe zu befassen.

Matías Mauricio ist – vor allen Dingen – selbst Lyriker, Essayist und Dozent; seine gesamte Aktivität dreht sich um das Schreiben. Eine Zeit lang hat er mit dem Pianisten Javier Arias gearbeitet – mit dem er immer mal wieder gemeinsam komponiert – so wie auch andere Musiker seiner Generation.

In seinem neuen Buch „Tango post 2001: estallido social y nuevas poéticas (‚Tango Post-2001: Sozialer Aufbruch und die neue Lyrik‘) erforscht er die Poetik des Tangos auf der Basis einschneidender sozialer und politischer Ereignisse, die die argentinische Gesellschaft der letzten 25 Jahre geprägt haben.

Manchmal wird vom Tango gesprochen, als gäbe es nur die Barden der Vergangenheit. So als gäbe es, über das poetische Niveau seiner besten Exponenten hinaus, nichts mehr zu sagen. Tatsächlich gibt es aber schon seit längerem Betrachtungen und Arbeiten, die sich  der Tangopoesie des 21.Jh. widmen, und sich über ihre neuen Lieblings-Troubadoure auslassen. Seien es die Texte von Alorsa, von Acho Estol, Marisa Vásquez, Victoria di Raimondo oder Cintia Trigo… oder auch jene von Juan Lorenzo, seinem Namensvetter Juan Serén oder Mariano Pini, um eine kurze und ungerechte Liste aufzustellen.

Jenseits der Liedersammlungen, die sich zum Glück wachsender Popularität erfreuen, fehlte dem Tango des 21.Jh. eine Arbeit, die einen Kontext beschreibt und einen theoretischen Rahmen gibt. Der Dichter Matías Mauricio hat kürzlich sein Buch „Tango post 2001: estallido social y nuevas poéticas” vorgestellt, bei Live-Musik, gespielt von Cucuza Castiello, Leandro Nikitoff, Mariano Heler und der Bandoneonistin Cindy Harcha mit einem historischen Bandoneon von Aníbal Troilo, illustriert von der Präsentation des Tänzers Juampy Ramírez.

Tango Post 2001 - Matías Mauricio
Ediciones del CCC. Año: 2022. 
ISBN: 978-987-3920-72-1

Es gibt eine neue Tangolyrik


„Ich wollte ein Buch schreiben, daß Zeugnis abgibt, da es wenige Arbeiten über die Lyrik des Genres gibt – seit der Einführung der Demokratie bis heute,“ sagt Mauricio über seine Motivation. „Es gibt vereinzelte Texte, Essays und Kommentare, die jedoch inmitten eines Limbus verharren. Heutzutage ist die Lyrik der ‚borderline‘-Aspekt des Genres“, stellt er fest.

Seine Ausführungen beginnen bei den unmittelbaren Vorgängern der neuen Generation von Dichtern und Lyrikern, z.B. den 90er Jahre-Erfahrungen von Melingo und La Chicana, um einige zu nennen, die aus der Not des wirtschaftlichen Dezember-Zusammenbruchs 2001 eine eigene Ästhetik entwickelt haben und die Stadt, in der sie lebten wiederspiegelte. Matías Mauricio stellt die soziale Thematik in den Mittelpunkt des Diskurses über die neue Tango-Szene. Er bereitet für die Lektüre zeitgenössischer Texte einige Schlüssel vor, die es erleichtern, sich den Texten zu nähern, er zeigt die Lebenswege herausragender Persönlichkeiten auf und nicht zuletzt, eine Anthologie der bekanntesten zeitgenössischen Tango-Lyrik.

„Zuerst hatte ich über eine die letzten120 Jahre des Tangos umfassende Arbeit nachgedacht, um die Post-2001-Generation zu erklären; das erschien mir jedoch letztlich zu ausschweifend“, erinnert er sich. „Mein Traum ist es nun, daß mit diesem Material weitergearbeitet, daß es weiterentwickelt wird, mit noch besseren Analysen und Überlegungen; oder – warum nicht? – sich bestimmte Autoren heraussuchen und dieses Thema vertiefen. Ich werfe Pinselstriche und breche eine Lanze für die Lyrik!“ Mauricio fühlt sich – und weiß sich – als Teil dieser neuen Generation.

Er schreibt selbst Tango-Lyrik und hört sich die zeitgenössischen Interpretationen an, hält jedoch auch viele Vorträge über die ‚alten‘ Lyriker. „Ich fühle mich ein bißchen chamäleonhaft, es scheint, als würde ich mit den ‚Traditionellen‘ ständig Tote ausgraben, aber in Wirklichkeit zündele ich mit dem Heute. Während ich über Manzi sprach, wob ich an einem Schattengott, der dies alles war“.

Matías Mauricio
Matìas Mauricio recitando, 2.Festival Electrotango (Foto: Geert Böttger)

Das Buch „Tango post 2001: estallido social y nuevas poéticas” beschreibt mehr als 20 Jahre des Genres. „Es gibt bereits einen grundlegenden Ton, eine Stimme, Verse, die erzählen, was uns passiert“, sinniert Mauricio, „es ist das, was im goldenen Zeitalter geschah, was Villoldo seinerzeit machte; wir haben heute einen Korpus, der etwas aussagt, etwas Herausragendes, eine Farbe, ein Timbre, eine Art der Epoche zu atmen, die es erlaubt aus der Vogelperspektive eine Kartographie zu erstellen.

– Warum hast Du Dich für sozialkritische Texte entschieden?

-Weil es unserer Zeit den Stempel aufdrückt, den Ausbruch von der Menem-Ära bis heute. Natürlich hat es schon immer sozialkritische und politische Texte gegeben; der aktuelle Textkörper wird jedoch durch das Soziale bestimmt. Da sind Texte über die Liebe, die Vergänglichkeit der Zeit, aber die kaputte Stadt ist das Leitmotiv unserer Generation.

– Seien wir ontologisch – was bedeutet das: tangoweise?

-Zuerst ist da die Klanglichkeit der Musik. Wenn es eine sonore Koloratur gibt, ist der Tango da. Das kannst Du mit Texten begleiten, und diese Texte handeln alle von der Stadt. Es gibt auch ländliche Tangos und was Du willst, aber die Stadt ist latent immer da, mit einer gewissen Lyrik und Nervosität. Darüber legen sich Flüsse, Welten, die Vorstädte von Manzi, die Rinnsäle von Espósito, die Verzweiflung von Discépolo, der Dreck von Tape oder das Dunkle von Di Raimondo, das Groteske von Alorsa. Du kannst Dir einen Cumbia- oder Manal- oder Wos-Text greifen, tangoweise gespielt ist es sofort ein Tango. Da ist immer die Stadt.

– Und das “Rockige” im aktuellen Tango?

– Da kommen wir her. Wir kommen nicht vom orthodoxen Tango; nicht nur seitens der Musik, sondern der Allgemeinkultur wegen. Das geht in die Musik ein, in die Texte, in die Phrasierungen. Jemand, der auf die Rockkultur aufbaut, atmet nicht wie früher. Und (sic) wir schreiben von hier aus. Meine Texte sind zum Beispiel von Spinetta beeinflusst.

-Wenn Du vom Lied und seinem “Geheimnis” sprichst, wie definierst Du das?

-Mein Ideal von einem Lied baut auf einer guten Melodie auf, einem kommunikativen Text und einer Stimme, die die Interpretation mit Kraft zum Leuchten bringt. Wenn all das außerdem auch noch ästhetische Schönheit hervorbringt, was braucht man mehr? Das Mysterium der Lieder ist eine Frage nach den Göttern. Vielleicht hat das Lied alles was ich aufgezählt habe, aber wenn das Publikum es nicht verinnerlicht, wäre die Mission nicht erfüllt. Die guten Lieder werden gepfiffen.


Hier kann man sich einige der Werke von Matías Mauricio mit herausragenden Interpreten anhören:

Dos metros más allá (Matías Mauricio – Agustin Luna)
Montevideana (Matías Mauricio – Javier Arias)

Originaltext: https://www.pagina12.com.ar/494139-matias-mauricio-y-la-nueva-poetica-del-tango
Übersetzung und editorische Anpassung : Stela Popescu-Böttger

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