Hugo Mastrolorenzo: Der Bühnentod des Tango

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Kritik des renommierten Choreographen an Ästhetisierung, sich wiederholenden Repertoires, mangelnder Innovation und der Spannung zwischen Markt und Kunst.

Hugo Mastrolorenzo ist ein herausragender Choreograph der heutigen Tangoszene. Er setzt sich auch theoretisch als Dozent, Fachautor und Regisseur intensiv mit dem Tangotanz auseinander. Zudem ist er ein ausdrucksstarker, erfolgreicher Tänzer, der u.a. beim Festival Mundial de Tango in Buenos Aires 2016 zum Weltmeister in der Sparte Tango Escena (Bühnentango) gekürt wurde. Während der Quarantäne startete er „Vacío“, eine Video-Tanzarbeit, in der er die Situation von Haft und Quarantäne erforschte.  

In seinem letzten Buch „El Tango ha muerto en Escena“ (Der Bühnentod des Tango; Buenos Aires 2020) feuert Mastrolorenzo schonungslos auf das Regelwerk des Tangos. Die Arbeit enthält eine der rigorosesten Auseinandersetzungen mit der aktuellen Situation des Tango als Tanz. Mastrolorenzo stößt sich an der Ästhetisierung, dem immer wieder aufgewärmten musikalischen Repertoire, der mangelnden Innovation und der Spannung zwischen Markt und Kunst, nebst anderen Hindernissen, die er bezüglich der mangelnden Entwicklung des Genres beobachtet.

Der Essay beginnt mit einer historischen Auseinandersetzung und der Entstehung der ersten Tangozentren  bzw. Tangoschulen  „for Export“ in den 70er Jahren und der damit einhergehenden Herauskristallisierung eines Repertoires, dem für die Bühnenkünstler ein stereotypes Verständnis des „Schönen“ beigefügt wurde. Auch weist Mastrolorenzo auf die „Bühne“ hin, die bei Milonga-Showeinlagen oder Festivalpräsentationen stets dabei ist. „Das Schönheitsproblem in der Kunst ist sehr alt“, kommentiert er gegenüber der Zeitschrift Página /12 in einem Interview mit Andrés Valenzuela. „Wenn Ästhetisierung aufkommt, wird sie zum Thema und die Szene eher zu einer Modenschau als zu einem Raum der Darstellung mittels einer Sprache wie jener des Tangos, eines Konzepts“. Ein zentrales Anliegen des Buches ist es, den Tango als Möglichkeit und Mittler zu verstehen, Ideen auszudrücken, die nicht immer nur den Tango selbst oder die Geschichte des Genres betreffen müssen, sondern z.B. soziale oder politische Themen (siehe z.B. die Produktion von Mastrolorenzo „24M.Nunca Mas“, die sich mit der Militärdiktatur, Zensur und Repression auseinandersetzt. Mehr dazu hier:)

Andrés Valenzuelea (AV):Du weist auf die Wiederholungen des Repertoires hin. Wie bricht man damit?

Hugo Mastrolorenzo (HM): Nun, ich hoffe, dieses Buch ist ein Bein, das dabei hilft. Deshalb beharre ich auf Wörtern wie Kanon oder Paradigma und auf dieser ständigen Wiederholung, die wir manchmal im Tango machen, ohne uns zu fragen warum. Das zweite Bein ist für mich, etwas Anderes auf die Bühne zu bringen. Bei der Tango-WM habe ich immer versucht, neuartige Dinge zu präsentieren, damit jemand sagt: „Schau, es geht“. Das war mit meinen Mitteln. Es wird auch andere geben.

Editorial Dunken, Buenos Aires 2020


AV: Du kritisierst eine kreative Stagnation im Tanz.

HM: Ich denke, die Musik hatte einen Produktionsrückgang, der Tanz jedoch war bereits vorher auf dem Wege der Kommunikationslosigkeit. Ich spreche aus künstlerischer Perspektive.  Wenn wir uns die Musik anschauen, finden wir ganz außergewöhnliche Werke. Nachdem der Tanz sich Zutritt über das Cabaret verschafft hatte, kam eine Zeit, in der ich ihn rein über Ästhetisierung und sogar Verdinglichung herüberkommen sehe. Vor allem bei den Frauen: ihre spärliche Garderobe, das Bedürfnis, sich zu zeigen, um das männliche Publikum zu unterhalten. Und ich sage „unterhalten“, um uns zu fragen, ob das, was wir tun, Unterhaltung oder ein künstlerisches Produkt sei. Oder zumindest, wie es von den Grundlagen her gedacht wird. Ich bestehe auf der Ästhetisierung, weil die Frau viel nackter und der Mann mehr im Smoking gesehen wird. All diese Aktionen haben Konsequenzen. Wir haben also eine sich entwickelnde Musik und einen Tanz, der letztendlich in einem ästhetisierenden Produkt kristallisiert. Das geht schon so seit längerer Zeit.

AV: Wenn sich das musikalische Repertoire ändern würde, zum Beispiel eine Show mit zeitgenössischen Tangos, würde es helfen?

HM: Ich denke, eine solche Show kann kraftvoll sein, und die Frage wäre, ob jemand sich daran macht. Aber die Bühnendarstellung ändert sich nicht durch eine Veränderung der Hintergrundmusik. Heute gibt es einige Ansätze mit anderen Musikstücken, aber ich habe nicht das Gefühl, dass sich die Szene allzu sehr verändert hat. Es tut sich was, aber es reicht nicht. Sobald es zum Auftritt kommt, verändert sich der Tanz, die Bewegung nur in einem Rahmen in dem der Tanz an sich sich verändert hätte. Zu glauben, dass sich die Dinge geändert hätten, weil man jetzt einen Turnschuh anzieht oder keine Fliege trägt, ist irreführend. Wenn das Regelwerk gleichbleibt, trotz anderer Musik, bleibt es dasselbe, und zwar nicht nur bei einer Dinnershow, sondern auch bei einer Milonga oder einem Festival.

AV: Du erwähnst eine gewisse Spannung zwischen dem Marktgeschehen, dem, was von Tänzern verlangt wird und der künstlerischen Berufung.

HM: Diese Diskussion läuft in vielen Seminaren. Wir haben sie (die Tänzer, Anm.d.Ü.) nach ihrer Meinung gefragt, warum ihnen in Tangohäusern und -bühnen immer die gleiche Arbeit aufgetragen wird, und sie antworten, dass das der Nachfrage der Produzenten und Choreographen geschuldet ist, die die Castings durchführen. Diese Nachfrage kommt nicht aus der Öffentlichkeit, sondern von denen, die sie verwalten. Aber ich bestehe darauf, sich nicht zu sehr darauf zu versteifen, denn so etwas passiert auch in den Milongas, und ich habe nicht das Gefühl, dass die Organisatoren das „nachfragen“, sondern eher dass es eine Frage der Konventionen bezüglich der Aufführungen ist. Obwohl es vielleicht anders aussieht, gibt es immer noch ein Regelwerk in jedem Raum. Es ist wahr, dass es in einem Tangozentrum oder -studio nichts Neues gibt, aber auch nicht in der Milonga. Es ist nicht so, dass ich die Casa de Tango rechtfertigen möchte: für mich ist es ein Ort, der keine Rettung birgt. Aber nehmen wir an, es geschieht alles auf Wunsch der Öffentlichkeit. Ist es das, was Du als Künstler machen willst? Dem entsprechen?

AV: Du warst Weltmeister im Bühnentango. Welche Rolle könnte das offizielle Festival / die Tango-Weltmeisteschaft spielen, um diese Vielfalt zu fördern?

HM: Ich komme aus Folklore-Wettbewerben, seit ich sehr jung war. Dort herrschte eine ganz klare Regelung, die Kreativität förderte. In einem Finale gab es ein außergewöhnliches technisches Niveau, aber der Unterschied, der zum Sieg führte, war das Bühnenkonzept, die Originalität. Das Festival bzw. die Weltmeisterschaft ist so nicht. Da sind diese Jurys, die dasselbe alte Ding sehen wollen und glauben, dies sei eine Verteidigung der Tradition. Auf jeden Fall wette ich weiterhin auf die Interpreten, obgleich sie auf die Bühne kommen und immer das Gleiche zeigen.

AV: Und was ist, wenn sich weder Vorschriften noch Jurys oder Castings ändern?

HM: Da gibt es einen Hund, der sich in den Schwanz beißt, denn genau wie in den Tangoshows und Milongas tanzen die Interpreten Althergebrachtes, weil sie glauben, so gewinnen zu können. Der Schlüssel ist, die Grundlagen zu ändern. Es ist an der Zeit, über die Rolle der Choreographen nachzudenken, die wir manchmal mit dem Tänzer-Performer verwechseln. Zuweilen mag das die gleiche Person sein, aber ich denke, technisch gesehen haben wir ein sehr reiches Moment für die Darsteller und ein sehr armes für die Choreographen, da Konzept und Inszenierung einer Kommunikation fehlen und nicht ein Regelwerks. Es ist wie ein Wix-Arbeitsblatt, in dem drei oder vier Elemente ihre Plätze wechseln. Bei Agustina, meiner Partnerin, sagen wir, dass ein Transporter das eine ist und ein Choreograf das andere. Jeder kann eine Fracht machen, aber ein Konzept zu erarbeiten und es auf die Bühne zu bringen ist etwas anderes. Heute ist das Zeitalter der Performer, nicht der Choreographen. Vielleicht ist die Choreographie als nächstes dran, und dann ist ein Gefühl von Werk und nicht von Show oder sich wiederholender Nummer vordergründig.

Basis: https://www.pagina12.com.ar/tags/50578-hugo-mastrolorenzo
Übertragung: Dr. Stela Popescu-Böttger

1 Kommentar

  1. […] Hugo hat den Tango als Tanz auch analytisch und historisch durchdrungen. Bisher veröffentlichte er folgende Arbeiten in Buchform:– TangonotacionEine Notation desTango für Tanzende, den Tanzunterricht und zur Darstellung von Schritten bzw. Choreografiedetails – Tango Tanz – Auf der Suche nach der Methode die er nie war.In diesem Buch werden zunächst die fundamentalen Prämissen des Tango herausgearbeitet. Es folgt eine synthetische Betrachtung der aktuellen Unterrichtsmethoden und deren kritische Analyse vor dem Hintergrund der vorgestellten fundamentalen Prämissen. Eine historische Analyse der Unterrichtsstile erläutert, warum Unterrichtsmethoden und fundamentale Prämissen des Tango auseinanderfallen. Dieses Buch ist in deutscher Sprache erhältlich. – Tango Danza – El Origen de la EspecieHier werden die verschiedenen Erklärungsansätze zur historischen Entstehung des Tangotanzes vorgestellt, auch die verschiedenen Ausprägungen unter dem Namen Tango. Der breite Ansatz führt zu einem sehr guten Überblick was Tango alles war und Mastrolorenzo synthetisiert daraus eine neue Auffassung über die Entstehung des Tangos als Tanz. Dieses Buch ist gerade in einer erweiterten 3. Auflage erschienen.– El Tango Murió en la EscenaDiese Arbeit enthält eine rigorose Auseinandersetzungen mit der aktuellen Situation des Tangotanzes. Mastrolorenzo stößt sich vor allem an der Ästhetisierung, dem immer wieder aufgewärmten musikalischen Repertoire, der mangelnden Innovation und der Spannung zwischen Markt und Kunst, die er bezüglich der mangelnden Entwicklung des Genres beobachtet. Mehr zu diesem Essay und ein Interview mit Hugo findet sich hier:https://tango21.info/hugo-mastrolorenzo-der-buehnentod-des-tango/. […]

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