Das La Martino Orquesta Tipica ist das Projekt von Nehuén Martino, einem jungen Pianisten und Komponisten aus Patagonien. Sein Orchester ist ein hervorragendes Beispiel für die lebendige Auseinandersetzung in der jungen Musikszene Argentiniens mit dem Tango. Der typische La Martino Sound hat zwei Wurzeln: typische Tangomuster und -spielweisen und die klassische Musik. Der Stil kann als klassisch inspirierte Variante des modernen Tangos verortet werden. Innerhalb der Stilrichtungen des Tango bezeichnet Nehuén Martino selbst seine Tangos als stark von Gobbi beeinflußt.
Auf der Debut – CD „La Martino Orquesta Típica“ sind 11 Eigenkompositionen von Nehuén Martino und ein Tango von Matias Fain zu hören. Als die CD eingespielt wurde, war Martino 25 Jahre alt. Im Gegensatz zu vielen anderen aktuellen Tangomusikern, haben er und die meisten seiner ebenfalls jungen Orquestamitglieder keine Umwege über den Rock oder Jazz genommen. Vielmehr hat Martino eine klassische Musikausbildung genossen. Er sagte uns, dass seine Musikauffassung vor allem von Wagner, Chopin, Bach und Mahler beeinflusst sei, sowie von Piazzolla und Gobbi aus der Welt des Tangos. Das hat zu einem faszinierenden und eigenständigen Sound geführt, den ich als „sinfonisch“ inspirierte Tangos bezeichnen möchte. Die sehr eigene Handschrift der Stücke verfügt über einen rhythmisch klaren und ruhigen Tonus, gefüllt mit spannenden Melodiebögen, sich steigerndem Drama und folgender Erlösung. Die CD zählt auch zu unseren Einsteigertipps für ein tieferes Verständnis des modernen Tango („Tango Siglo XXI: CD Empfehlungen für Einsteiger“https://tango21.info/763/).
Die CD wurde bereits 2016 eingespielt, von 17 Musikern, u.a. 6 Geigern und 4 Bandoneonistas. Nazarena Anahí Cáceres und Nicolás Abosky singen im Wechsel 7 der 12 Titel. Die Spieldauer beträgt 49:41 Minuten. Die CD ist sorgfältig editiert und enthält nicht nur alle dafür geschriebenen Texte, sondern auch die Namen des gesamten Teams. Nehuén Martino ist es wichtig, dass das Orquesta zwar von ihm geleitet, jedoch als Kooperative verstanden wird.
Die Lyrik zur Musik Martinos wurde von Mariano Pini bzw. von Daniel Oliveira geschrieben. Mariano Pinis Texte strotzen vor Bildkunst, Symbolik und Allegorie, den großen Dramen des verlassenen Mannes, wie z.B. bei „Pan de mi Locura“ oder „Boca de Vino“ – typisch Tango. Die Texte von Daniel Oliveira behandeln kaum weniger bildhaft die schwierigen kreativen Prozesse und Phasen des Dichters in „A Donde Va“ und „Puerto de Orígen“. Persönlich ist dem aus Patagonien stammenden Nehuén Martino das Instrumentalstück „Aflicciones“ (Kümmernisse) ein besonderes Anliegen. Es ist der Tragödie verheerender Waldbrände in Patagonien von 2015 gewidmet und stellt Vernichtung und Erholung des Waldes wie eine sinfonische Dichtung dar. Bilder dieses Waldbrands vom argentinischen Star-Fotografen Máximo Parpagnoli prägen auch das Design der CD-Hülle.
Die CD ist gut tanzbar mit klaren rhythmischen Strukturen, auch wenn manche langsamen Passagen von den Tänzern mit innerer Versammlung im Paar zu gestalten sind. Meine Anspieltipps für eine Tanda – im fortgeschrittenen Stadium einer Milonga – sind das Instrumentalstück „Rusia“, „Pan de mi Locura“, „Boca de Vino“, „Puerto de Origen” und der Bonus Track „A Donde Va“. Persönlich halte ich diese CD für ein rares Kleinod aktueller Tangomusik: nicht nur wegen des sehr eigenen, „sinfonisch“ inspirierten Stils der Tangos, sondern auch, weil sie als CD kaum erhältlich ist und nur La Martino selbst noch Exemplare zur Verfügung hat.
(Dieser Text basiert auf meiner CD Besprechung in der Tangodanza 3/2021, S. 69)