ns Auge fällt sofort die Visual Poetry:
Der Tanzraum ist geflutet von Projektionen – sich wandelnden Farbwelten, Häuserzeilen, Landschaften, abstrakte Muster, Symbole, Reales und Surreales.
Fünf VJanes und VJs mit unterschiedlichen Ansätzen waren eingeladen, den Raum mit ihren Visuals als eine lebendige, sich permanent verändernde Umgebung zu gestalten. Der Raum als optischer Bezugspunkt bekommt dadurch ein eigenes Leben. Er beschäftigt bildgewaltig unsere Köpfe, die Sinne… zusätzlich zur Musik, zusätzlich zu den Personen, die sich im Raum bewegen. Du kannst in die Bild-, Farb- und Musterwelten eintauchen und siehst, wie Personen darin eine Bahn tanzen, verschwinden und dann undeutlicher auf der Gegengeraden wieder auftauchen, während die erste Bahn wieder von anderen Paaren betanzt wird.
Es erinnert in seiner sinnlichen Wirkung zuweilen an die psychedelische Ästhetik der 1960er- und 70er-Jahre – nur ohne Lysergsäurediethylamid usw. Du schaust auf eine Tanzszenerie in anderen Welten und doch ist es auch deine Welt und die deiner Tanzcommunity, und du bist Teil dieser Szenerie. Diese visuelle Transzendierung eröffnet neue Perspektiven, die Du erstmal wirken lassen willst oder wirken lassen musst.
Aber das ist nur das zuerst Offensichtliche. Der neoTango Rave ist ein magisches künstlerisches und gesellschaftliches Event wie eine große, positive Utopie.
Künstlerisches Gesamterlebnis in der Schaulust
Vom 13. bis 15. Juni 2025 verwandelte sich der Kulturraum der Schaulust e.V., ein selbstverwaltetes Kultur- und Kreativzentrum auf dem Areal des ehemaligen Güterbahnhofs in Bremen, wieder in ein audiovisuelles Gesamtkunstwerk.
Drei Tage lang verschmolzen Klang, Bewegung und Licht zu einem umfassenden sinnlichen Erlebnis. Ein Tanz- und Musikwochenende wie ein mentales Aufputschmittel – voller Begegnungen, umfassender neuer Eindrücke und ästhetischer Intensität. Es ist eine eigene, faszinierende Welt im Kosmos der Tangoevents.
Tanguerilla Visual Poetry – der Kopf hinter dem Rave
Initiator und Organisator des neoTango Rave (nTR) ist der Bremer Künstler Tanguerilla Visual Poetry. Sein Selbstverständnis:
DER neoTangoRave ist und war schon immer eine avantgardistische, anti-elitistische und visionäre Tango-Veranstaltung sowie eine Plattform für innovative Künstlerinnen und Künstler.“
Weiter hat er den nTR konzipiert als low budget – Event. Das heißt einerseits, dass kostenminderndes Teamwork gefragt ist, um die Organisation und Durchführung der Veranstaltung zu stemmen. Andererseits entsteht ein Gemeinschaftsgefühl, weil viele der Besucher nicht nur Besucher sind, sondern auch Beteiligte.
So gibt es z. B. ein Aufbau- und ein Abbauteam u. a. für die aufwendige Installation der Technik und der textilen Raumauskleidung für die Projektionen. Auch die DJanes, DJs und Videokünstler verzichten auf übliche Honorare, so dass ein großes Gefühl des Miteinanders entstehen kann.
Ein großer Teil der Raver trug aktiv zum Gelingen des Events bei. Hingehen und Konsumieren wird zu großen Teilen Mitmachen und Beitragen.

Neue Entwicklungslinien der Tangomusik
10 DJanes und DJs aus 5 Ländern waren eingeladen, ihre Sicht des Neotangos und seiner Facetten jenseits der traditionellen Tangomusik zu präsentieren.
Daraus ergab sich ein musikalisches Kaleidoskop, welches von neu arrangierten Tangoklassikern über den Electrotango mit assistierenden Musikcomputern bis hin zu tangoaffinen Stücken mit Elementen aus Jazz, Rock, Blues oder folkloristischen Stilen reichte.
Auch Non-Tangos mit interessanter Dynamik und einladendem musikalischen Schwung gehörten zum Repertoire. Das erinnert an zeitgenössische Versuche von Tango-MusikerInnen in Buenos Aires wie z. B. das OT Di Pasquale oder an den Zyklus „Populares“ von Siempre Tango.
Tango war immer Fusion – der nTR zeigt dies in beeindruckend großer Vielfalt.
Jeder DJ hatte seinen Stil und seinen individuellen Schwerpunkt, sodass den Tänzern eine große musikalische Vielfalt geboten wurde.
Der neoTango Rave geht bewusst über die traditionelle Milonga hinaus und öffnet ein breites Spektrum an neuen Entwicklungslinien im Tango. Manchmal wird die Musikauswahl auch einfach von der Maxime bestimmt: Hauptsache gut tanzbar.
Tanguerilla Visual Poetry hat die DJs 2025 darum gebeten, die Nähe zum Tango stärker zu berücksichtigen als mittlerweile in vielen Neolongas üblich.

Neue Impulse für den getanzten Tango
Alle DJs und DJanes wurden mit ihren Präsentationen von den Tänzern gut und sehr gut angenommen. Diese Offenheit ist bemerkenswert: Wo der traditionelle Tango neue Klangwelten oft als „nicht tanzbar“ ablehnt, nehmen die Neotänzer sie auf – neugierig, spielerisch, oft auch ausdrucksstark.
Damit einher geht auch eine offenere tänzerische Grundhaltung, die mehr Spielraum für Bewegungen im Paar gibt. Das gibt den Tanzpartnern sehr viel mehr Möglichkeiten, sich auszudrücken bis hin zu unabhängigen Drehungen wie sie z. B. im Salsa oder Rock’n’Roll genutzt werden.
Die Faszination der engen Umarmung, z. B. im Tango Milonguero, wird hier gebrochen. So anregend die Bewegung in der engen Umarmung auch sein mag, so interessant kann die Kommunikation mit mehr Abstand sein.
Viele Tanzpaare beim nTR nutzen sowohl Elemente der traditionellen Tangostile (Salon, Milonguero) wie auch offenere Haltungen und Figuren, die mit anderen Tänzen – bis hin zur Contact Improvisation – in Verbindung gebracht werden.
Diese Öffnung der Tanzstile ist ein Grundelement des Neotango. Beim nTR wird das besonders deutlich, weil jedes Tanzpaar vor den Visuals – z. B. Jugendstilornamentik à la Klimt – selbst zum Kunstwerk wird. Dem zuzusehen ist ein künstlerisches Happening im eigentlichen Wortsinn.
Nachmittags gab es zudem eine Reihe von Tanz-Workshops, z. B. zum Thema „sanftes Führen“.
Die Treppentribüne – Zuschauerraum des Staunens
Die Tanzfläche wirkt wie eine Schaubühne vor einer breiten, mit Holzplanken konstruierten Treppentribüne. Hier erleben ZuschauerInnen die gesamte Szene als ein sich stetig wandelndes Gesamtkunstwerk – manchmal dynamisch, manchmal meditativ – abhängig vom Zusammenspiel der Visuals mit der Musik und den Tanzenden.
Viele Tänzer machen hier Pause, einige legen sich auf die Bretter und lassen die Szenerie auf sich wirken. Die Architektur verstärkt die Wirkung: Die Projektionen entfalten sich in der Tiefe und Höhe des Raumes, brechen sich an der Bewegung der Körper und lassen die Grenzen zwischen real und projiziert verschwimmen.
Dank guter Soundtechnik gehen die Rhythmen und Melodien derweil allgegenwärtig durch Ohren und Körper.

Die Außenterrasse als Resonanzraum
Die sonnendurchflutete Außenterrasse ist ein zweites Herzstück des nTR. Hier wird durchgeatmet, gesprochen, geschaut und gespürt. Sie ist Rückzugsort, Begegnungszone, Resonanzraum – ein Kontrast zur optischen und klanglichen Dichte des Innenraums.
Hier entsteht ein anderes Tempo, ein anderes Miteinander. Es ist auch dieser Wechsel von intensivem und entspanntem Zusammensein, der den nTR so eindrucksvoll erscheinen lässt.

Hier geht es zum zweiten Teil des Artikels mit den Themen Livemusik 2025 und Codigos. (Link)
Ein Interview mit Tanguerilla, dem Gestalter des künstlerischen Konzepts und Organisator des Events, findet sich hier: (Link)