Die Auswahl der CDs ist natürlich unvollständig. Wir empfehlen die Lektüre mit einer Streaming- Plattform einschlägig zu begleiten… ideal für die Quarantäne! Wir haben aus den CDs noch eine Playlist ausgewählter Titel erstellt (*Link an Ende des Beitrags).
Ursprünglich war unsere CD-Auswahl drei Mal so lang, und dann fehlten immer noch Orchester, Klänge und Tendenzen des zeitgenössischen Tangos… Das sind diese wunderbar erwünschten Probleme einer dichten und vielfältigen Entwicklung innerhalb des Musikgenres. Daher empfehlen wir nachdrücklich, die Tore der Wahrnehmung diesem neuen Tango-Genre weit zu öffnen: dem Tango des 21. Jahrhunderts! Die Reihenfolge dieser Liste ist nicht chronologisch, sie hat jedoch ein Ausgangs- und ein Zielmoment.
Es geht los mit dem “Tango de Ruptura” (Tango der Zäsur*), von Astillero– einer CD die von ihrem Komponisten und den Musikern als programmatisch verstanden wurde. Wir beenden die Liste mit der CD “La Menesunda” von Cucuza Castiello, einem Sänger der den synergetischen Tango gefördert hat und nicht nur Rock und Tango, sondern auch verschiedene Tangos zusammengeführt hat. Die Auswahl präsentiert gleichfalls eine Vielzahl von Sängerinnen und Komponistinnen; erstere sind Dolores Solá, Julieta Laso, Eliana Sosa, Nazarena Anahí Cáceres und letztere, Elbi Olalla und Cintia Trigo. Der klassischste Vorschlag unserer Liste wiederum weist auf einige neue Kompositionen des “Orquesta Típica Misteriosa Buenos Aires” hin.
Wir empfehlen, die CDs auf einer Streaming-Plattform zu hören, da diese oftmals verwandte zeitgenössische Gruppen anbieten. Das erlaubt tiefer in die Musik der Gruppen, Solisten, Bands und Orchester einzusteigen.
Tango de Ruptura von Astillero
Die vom Pianisten Julián Peralta geleitete Gruppe Astillero (= Werft *) verändert sich mit jeder CD. Astillero stellt explizit die Suche nach neuen Ausdrucksformen und Strukturen des Tangos in den Vordergrund – sowohl poetisch als auch musikalisch. Diese Suche wird vom Pianisten leitmotivisch immer wieder aufgenommen. “Tango de Ruptura” enthält herausragende Themen wie “Chiru” oder “Capataz”.
Reina Noche von Alfredo Tape Rubín y las Guitarras de Puente Alsina
Reina Noche (Königin der Nacht*) ist vermutlich eine der einflussreichsten CDs dieser Generation – vor allem aufgrund ihrer Lyrik. Tape erneuert die Bildhaftigkeit des Tangos, scheut nicht die gesellschaftliche Auseinandersetzung und die zeitgeschichtlichen Markierungen, ohne jedoch die traditionellen Elemente aufzugeben. Wenigstens die Hälfte der CD kann als zeitgenössische Klassik verstanden werden: “Aire sin fin”, “Regín”, “La Marylin”, “Bluses de Boedo”, “Analía”, “Ella se fue” und “Viento solo” sind unverzichtbare Musikstücke, wenn man ein bisschen verstehen möchte, was im Tango dieses Jahrhunderts vor sich geht.
Tango Agazapado von La Chicana
“Tango Agazapado” (der mimetische Titel des wie ein Raubtier zum Angriff geduckten*)entspricht einem Schlüsselmoment für das Duo Acho Estol / Dolores Solá. Die meisten Stücke sind selbst komponiert oder stammen von zeitgenössischen Künstlern. Hier werden nicht nur ein neuer Klang und Formen der ‘Mischehen’ für den Tango gesucht, die CD enthält unverzichtbare Stücke ihrer Discographie wie “Una iguana y tres monedas” (Ein Leguan und drei Münzen*), “Milonga de los perros” (Milonga der Hunde*) und “Juguete Rabioso” (Tollwütiges Spielzeug*).
Nuevos von Orquesta El Arranque
Das Orchester kommt aus der Generation der 90er. Die Jungs von El Arranque (der Start*) sind traditionsverhaftet, was sich auch bei den SängerInnen bemerkbar macht, die zu Beginn dabei waren: Lidia Borda und Ariel Ardit. El Arranque weist mit Stolz auf seine Gobbi-schen Wurzeln hin. In “Nuevos” spielen sie, wie der Name sagt, neue eigene und von jungen Kollegen komponierte Tangos. Das Stück “Nuevo y Vivo” spiegelt diesen Geist wider. Die CD wird als 3er präsentiert, die anderen beiden heißen “Maestros” und ”Clásicos”.
En Vivo von Fernández Fierro
Die Gruppe Fernández Fierro muss von ihrem Vorbild Pugliese her verstanden werden. Sie fungiert wie ein Knotenpunkt zur Einstimmung in das Feld des heutigen Tangos. Bei “En Vivo” ist der Einfluss klar erkennbar und Dreh- und Angelpunkt der Musik. Mittlerweile wurde eine Sängerin eingeführt – auf der CD ist es noch Julieta Laso, heute ist es Natalia Lagos. Zum Anderen hat die Gruppe, nach 15 Jahren musikalischer Suche ihren ureigenen Sound gefunden, mit dem sie heute identifiziert wird.
Una Noche en la Milonga vom Orquesta Típica Misteriosa Buenos Aires
In der Entwicklung, die das ehemalige Orchester namens “Fervor der Buenos Aires” genommen hat, verbirgt der Pianist und Orchesterleiter Javier Arias nicht sein Faible für Di Sarli und seine Neigung zur Milonga, die ihn über Jahre geprägt haben. Die CD präsentiert intelligente Arrangements und eine herausragende Eliana Sosa als Sängerin. Obgleich das Repertoire viele Klassiker aufweist, treten auch die Kompositionen des Pianisten “E.G.B.” und “Pinap” (lautsprachlich aus dem Englischen “Pin Up”*) heraus, sowie die Hommage für Luis Alberto Spinetta “Seguir viviendo sin tu amor” (Weiterleben ohne Deine Liebe*).
Fargüest von Altertango
Inzwischen zweifelt niemand mehr daran, dass auch über die General Paz hinaus (Umgehungsstraße der Hauptstadt Buenos Aires*) Tango gespielt wird. Altertango (der ‘andere’ Tango*) ist eine Gruppe aus der Andenstadt Mendoza mit einer Schlüsselposition in dieser Tango-Generation, und sie wird von einer Frau geleitet: Elbi Olalla. “Fargüest” (lautsprachlich aus dem Englischen “Far West”*) ist die letzte CD, die sie mit ihrer Sängerin und Mitgründerin Victoria di Raimondo aufgenommen hat. Diese ist inzwischen nach Buenos Aires umgezogen und tritt mit den Guitarras Cuarteto La Púa auf. Ihre Abkehr von Altertango hat in die Gruppe hellere Töne gebracht. Nichtdestotrotz kondensiert “Fargüest” die Vitalität des Tandems, mit wunderbaren Passagen, wie z.B. in der “Milonga del Borde” (Grenzmilonga), Jardín del Desierto” (Wüstengarten), “Mañanita” (Schöner Morgen) und „Candombe del Niño Oscurito“ (Candombe des dunklen Kindes*).
Resurgimiento von Agustín Guerrero
Guerrero kam mit knapp 15 Jahren aus der Generation der 90er. Er zeigt als Pianist in jeder seiner CDs sein herausragendes Talent für konzeptionelle Arrangements und Kompositionen von enormer Komplexiität. In “Resurgimiento” (Comeback*) nahm sein aktuelles Interesse bereits Formen an und zeigte gleichzeitig seine Affinität zu Horacio Salgán, dem er hier die “Suite Salgán” widmet, ein Tango-Walzer-Milonga Triptichon.
La Martino Orquesta Típica von La Martino Orquesta Típica
Die erste CD dieses gleichnamigen ganz jungen Orchesters kombiniert Elemente aus der Gobbi- und D’Arienzo-Tradition, die allerdings auf der zweiten CD bereits ganz aufgegeben wurden. La Martino kombiniert musikalische Schönheit mit einer poetischen Auswahl der Texte, die sich von der städtischen Bildersprache seiner Kollegen unterscheidet: “Puerto de orígen”(Heimathafen*), “Boca de vino” (Weinmund*), “A donde va” (Wohin geht es*) sind hierfür exquisite Beispiele. Auf dieser CD sind die Gesangspartien gleichmäßig zwischen Sänger und Sängerin aufgeteilt – die späteren CDs werden hauptsächlich von Frauen besungen.
Otros Aires Dos von Otros Aires
(Otros Aires = “andere Winde” führt zurück auf die Stadt der “guten Winde” = Buenos Aires*) Miguel di Genova, Kopf von Otros Aires, kultiviert die Archäologie des Tangos, indem er Klassiker elektronisch aufarbeitet. Hinzu kommen sehr eingängige eigene Kompositionen, wie z.B. das grundlegende “Los Vino”. Seine Arbeit steht im Gleichgewicht mit seinen Quellen, den elektronischen Elementen und der Kunstfertigkeit seiner eigenen Lieder. Wenn man das Glück hatte, seine akustischen Versionen live zu hören, braucht man keine Samples, um die Kraft seiner Musik zu fühlen.
Furgón von La Vagabunda
(Furgón = Güterzug-Waggon, Kastenwagen, Lieferauto*) Cintia Trigo hat schon vor Jahren die “Milonguita femenil” komponiert, die sich zu einer wahren Hymne des feministischen Tangos entwickelt hat und breit aufgenommen in vielen Versionen weiter interpretiert wurde. Schlussendlich hat sie das Lied auf diese CD aufgenommen. Wenn es so etwas wie den “Sound des südlichen Großraums Buenos Aires” gibt, dann ist er hier präsent. Cintia Trigos Version von “6:25” unterscheidet sich stark von der Fernández Fierro-Version. Die Wirklichkeit ländlicher Stadtviertel fehlt weder in “La Turba” (turba bedeutet sowohl Torf, als auch blindwütig*) noch in “Sirena Requiem” (Nixen-Requiem).
Menesunda von Hernán “Cucuza” Castiello
Nach Jahren des Singens und ohne eigene CDs produziert zu haben, hat Castiello nun eine ganze Reihe CDs binnen kurzer Zeit aufgenommen. Die letzte zeigt jene Live-Aufnahmen, die wie ein Brückenbau Tango und Rock zu einer Synthese einschmelzen. In seiner Stimme verbinden sich poetische und musikalische Elemente beider Genres auf manchmal überraschende und unglaubliche Weise, wie z.B. bei der Version von „Irresponsables“ (Verantwortungslose*) der Gruppe Babasónicos. Cucuza kultiviert den synergetischen Tango: mit “Menesunda” öffnet er – auch der Milonga – Tore zwischen Welten.
Andrès Valenzuela ist als Kultur- und Musikjournalist auf den aktuellen Tango des 21. Jahrhunderts spezialisiert und wird als fachliche Kapazität vielfach gesucht.
Der Originaltext von Andrès Valenzuela erschien am 6. Juni 2020 hier: https://www.pagina12.com.ar/276720-tango-argentino-aqui-y-ahora.
Übersetzung von Stela Popescu-Böttger, * bezeichnet Übersetzerkommentare.
Hier die Playlist zu den ausgewählten CDs, zusammengestellt von Andrés Valenzuela (=tandasnuevas). 40 Tracks mit über 2 Stunden Laufzeit.
Vielen Dank für sie vielen tollen Musiktipps. Toller Blog. Danke